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Eingliederungshilfe für behinderte Menschen


Begriff und Einordnung der Eingliederungshilfe für behinderte Menschen

Die Eingliederungshilfe für behinderte Menschen ist eine zentrale Leistung der deutschen Sozialgesetzgebung, die darauf abzielt, Menschen mit körperlichen, geistigen, seelischen oder mehrfachen Behinderungen eine umfassende Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen oder diese zu sichern. Sie ist ein wichtiger Bestandteil des Systems der sozialen Sicherung und stellt eine spezifische Form der Teilhabeleistungen im Sinne des Sozialgesetzbuchs dar.

Die Rechtsgrundlagen der Eingliederungshilfe sind maßgeblich im Neunten Buch des Sozialgesetzbuches (SGB IX) sowie ergänzend im Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) geregelt. Insbesondere das Bundesteilhabegesetz (BTHG) hat die Eingliederungshilfe zum 01.01.2020 grundlegend reformiert, um die Selbstbestimmung und Partizipation betroffener Personen weiter zu stärken.


Rechtliche Grundlagen und Entwicklung

SGB IX – Teilhabe und Rehabilitation

Die zentralen Vorschriften zur Eingliederungshilfe finden sich seit der Reform durch das Bundesteilhabegesetz im SGB IX, Teil 2 (§§ 90 bis 150 SGB IX), und bilden das grundlegende Recht der Eingliederungshilfe ab. Ziel ist es, Benachteiligungen zu vermeiden und gleichberechtigte Teilhabe zu fördern.

Das Bundesteilhabegesetz (BTHG)

Das Bundesteilhabegesetz hat die Eingliederungshilfe aus dem Fürsorgesystem des SGB XII gelöst und eine personenorientierte, stärker auf individuelle Bedarfe ausgerichtete Hilfe gestaltet. Es erfolgte eine Trennung von Fachleistungen der Eingliederungshilfe (SGB IX) und existenzsichernden Leistungen (SGB XII).


Personenkreis der Eingliederungshilfe

Anspruchsberechtigung

Anspruch auf Eingliederungshilfe besteht für Personen, die unter den in § 99 SGB IX genannten Voraussetzungen eine Behinderung aufweisen oder von Behinderung bedroht sind. Die Leistungsberechtigung ist nicht altersbeschränkt und umfasst Menschen mit wesentlichen Beeinträchtigungen, sofern diese Teilhabe am Leben in der Gesellschaft wesentlich einschränken.

Eine wesentliche Behinderung liegt nach gesetzlicher Definition insbesondere vor, wenn die Auswirkung der Behinderung den Betroffenen dauerhaft in der Teilnahme am gesellschaftlichen Leben beeinträchtigt.


Leistungsarten der Eingliederungshilfe

Überblick der Leistungsbereiche

Die Eingliederungshilfe bietet ein breites Spektrum an Unterstützungsmaßnahmen, die sich an den individuellen Bedarfen der Betroffenen orientieren:

1. Leistungen zur sozialen Teilhabe

Diese zielen auf Integration in gesellschaftliche, kulturelle und soziale Zusammenhänge ab (z. B. Assistenzleistungen, Freizeitgestaltung, Teilhabe am gemeinschaftlichen Leben).

2. Leistungen zur medizinischen Rehabilitation

Dazu zählen Maßnahmen, die die gesundheitliche Situation stabilisieren und verbessern sowie die Behinderung mildern oder ausgleichen (z. B. Heilbehandlungen, Therapien).

3. Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben

Diese Leistungen unterstützen Menschen mit Behinderungen darin, eine Erwerbstätigkeit aufzunehmen, zu behalten oder wiederzuerlangen. Hierzu gehören unter anderem Werkstattangebote für behinderte Menschen (WfbM), Integrationsbetriebe und Unterstützung am Arbeitsplatz.

4. Leistungen zur Teilhabe an Bildung

Dazu zählen Assistenz im schulischen Bereich, in Aus- und Weiterbildung sowie die Förderung inklusiver Bildungsangebote.


Verfahren zur Gewährung der Eingliederungshilfe

Antragstellung und Bedarfsfeststellung

Der Rechtsanspruch auf Eingliederungshilfe setzt einen Antrag voraus, der beim zuständigen Träger der Eingliederungshilfe gestellt werden muss. Im Rahmen eines Teilhabeverfahrens wird auf Grundlage von § 117 SGB IX der individuelle Bedarf festgestellt. Dafür kommt regelmäßig das sogenannte Gesamtplanverfahren zum Einsatz, welches alle Lebensbereiche der betroffenen Person erfasst.

Der Träger der Eingliederungshilfe prüft im Verfahren:

  • das Vorliegen einer oder mehrerer wesentlicher Behinderungen,
  • die Auswirkungen auf die Teilhabe,
  • die vorliegenden individuellen Bedarfe,
  • geeignete und angemessene Leistungen zur Deckung dieser Bedarfe.

Träger der Eingliederungshilfe

Zuständigkeit

Träger der Eingliederungshilfe sind grundsätzlich überörtliche Träger (in der Regel die Landschaftsverbände oder Bezirke in den Ländern) sowie örtliche Träger (meist Landkreise oder kreisfreie Städte). Die Zuständigkeit variiert je nach Bundesland und Art der Leistung.


Umfang und Ausgestaltung der Leistungen

Nachrang der Eingliederungshilfe

Die Eingliederungshilfe ist eine nachrangige Sozialleistung. Sie wird nur gewährt, wenn weder die Betroffenen selbst noch vorrangige Sozialleistungsträger (z. B. Krankenkassen, Rentenversicherung) in der Pflicht stehen, die betreffende Leistung zu erbringen (§ 91 SGB IX, § 2 SGB XII).

Eigenbeteiligung und Einkommensgrenzen: Das BTHG hat den Einsatz von Einkommen und Vermögen der Betroffenen bei den Leistungen zur sozialen Teilhabe deutlich reduziert. Für existenzsichernde Leistungen gelten weiterhin die Regelungen des SGB XII.


Rechtschutz und Widerspruch

Entscheidungen über Leistungen der Eingliederungshilfe können mit Widerspruch und ggf. Klage vor den Sozialgerichten überprüft werden. Die rechtliche Grundlage hierfür bildet das Sozialgerichtsgesetz (SGG).


Abgrenzung zu anderen Leistungen

Eingliederungshilfe ist zu unterscheiden von Leistungen anderer Leistungsträger, wie etwa Leistungen der Jugendhilfe (§ 35a SGB VIII für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche), Leistungen der Pflegeversicherung oder der gesetzlichen Unfallversicherung. Die Zuständigkeit ergibt sich aus dem individuellen Bedarf und der Art der bestehenden Beeinträchtigung. Entscheidend ist das Prinzip der „Leistung aus einer Hand“.


Reformen und aktuelle Entwicklungen

Die Neuregelung durch das Bundesteilhabegesetz hat den leistungsberechtigten Personenkreis verbreitert und die Ausgestaltung der Hilfen personenzentriert neu geordnet. Aktuelle Herausforderungen für die Eingliederungshilfe ergeben sich insbesondere aus der Komplexität der Zuständigkeiten, dem Anspruch auf Teilhabe auch in inklusiven Kontexten sowie der Finanzierung der Leistungen auf Landes- und kommunaler Ebene.


Literatur und Quellen (Auswahl)

  • Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX)
  • Zwölftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII)
  • Bundesteilhabegesetz (BTHG)
  • Bundesministerium für Arbeit und Soziales: Informationen zur Eingliederungshilfe
  • Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation (BAR)

Die Eingliederungshilfe für behinderte Menschen ist ein zentrales rechtliches Instrument zur Förderung von Inklusion und gleichberechtigter Teilhabe. Sie unterliegt einer fortwährenden Weiterentwicklung, um den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und den Bedürfnissen der betroffenen Menschen gerecht zu werden.

Häufig gestellte Fragen

Wer ist leistungsberechtigt nach dem Recht der Eingliederungshilfe?

Leistungsberechtigt nach dem Recht der Eingliederungshilfe gemäß §§ 99 ff. SGB IX sind Menschen mit Behinderungen oder von Behinderung bedrohte Personen, die durch ihre Beeinträchtigung in der gleichberechtigten Teilhabe am Leben in der Gesellschaft wesentlich eingeschränkt sind oder eine solche Einschränkung zu erwarten ist. Voraussetzung ist, dass die benötigte Unterstützung nicht bereits anderweitig, beispielsweise durch Pflegeleistungen oder vorrangige Sozialleistungen, abgedeckt wird. Die Prüfung der Leistungsberechtigung erfolgt durch die zuständigen Träger der Eingliederungshilfe, die individuelle Feststellungen zu Art, Schwere und Dauer der Behinderung sowie zu den konkreten Teilhabebedarfen treffen. Auch die Altersgrenze und der gewöhnliche Aufenthalt im Inland spielen im Rahmen der Anspruchsvoraussetzungen eine Rolle. Insbesondere werden die persönlichen, wirtschaftlichen und familiären Verhältnisse im Rahmen der Einkommens- und Vermögensheranziehung nach § 136 SGB IX berücksichtigt.

Welche Leistungen umfasst die Eingliederungshilfe nach SGB IX?

Die Eingliederungshilfe nach SGB IX ist in verschiedene Leistungsgruppen unterteilt und umfasst insbesondere Leistungen zur medizinischen Rehabilitation (§ 111 SGB IX), Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben (§ 112 SGB IX), Leistungen zur Teilhabe an Bildung (§ 112 SGB IX i. V. m. § 75 SGB IX), sowie Leistungen zur sozialen Teilhabe (§ 113 SGB IX). Diese beinhalten unter anderem Assistenzleistungen, heilpädagogische Maßnahmen, Mobilitätshilfen, Hilfsmittel, Wohnformen sowie Leistungen zur Förderung von Kommunikation und Alltagsbewältigung. Die Leistungen erfolgen nach dem Grundsatz der Personenzentrierung und orientieren sich am individuellen Bedarf und den Lebensumständen der leistungsberechtigten Person.

Wie wird der Bedarf an Eingliederungshilfe festgestellt?

Die Feststellung des Bedarfs an Eingliederungshilfe erfolgt im Rahmen eines Teilhabeplanverfahrens, das gesetzlich im SGB IX geregelt ist. Eine zentrale Rolle spielt dabei die Bedarfsermittlung nach einem verbindlichen Instrument, das von den Bundesländern festgelegt wird (in vielen Fällen das Instrument BEI_NRW oder ITP). Im Verfahren wird unter Beteiligung der leistungsberechtigten Person, ggf. ihrer gesetzlichen Vertretung oder sonstigen Vertrauensperson, der individuelle Unterstützungsbedarf systematisch ermittelt. Dabei wird ein Gesamtplan erstellt, in dem die erforderlichen Maßnahmen und deren Ziele festgehalten werden. Die Personenzentriertheit und Einbeziehung der Wünsche und Vorstellungen der berechtigten Person ist gesetzlich gefordert.

Welche Rolle spielt das Wunsch- und Wahlrecht bei der Inanspruchnahme von Eingliederungshilfe?

Nach § 8 SGB IX haben leistungsberechtigte Personen ein Wunsch- und Wahlrecht hinsichtlich der Gestaltung und Ausführung der Eingliederungshilfeleistungen. Das bedeutet, dass die Wünsche beachtet werden müssen, soweit sie angemessen sind. Die Wahl bezieht sich insbesondere auf die Art der Leistungen (z. B. ambulant vs. stationär), den Leistungsanbieter und die Ausführungsform. Einschränkungen ergeben sich nur, wenn durch die Ausübung des Wunschrechts unverhältnismäßig hohe Mehrkosten entstehen, die aufgrund gesetzlicher Regelungen nicht übernommen werden müssen. Das Wunsch- und Wahlrecht ist ein zentrales Element der Selbstbestimmung und Teilhabe.

In welchem Verhältnis stehen Pflegeleistungen und Eingliederungshilfeleistungen zueinander?

Die Leistungen der Eingliederungshilfe und die Leistungen aus der Pflegeversicherung dienen unterschiedlichen Zielen, können aber im Einzelfall beide benötigt werden. Nach § 102 SGB IX und § 13 SGB XI (SGB XI: Soziale Pflegeversicherung) sind die Leistungsverpflichteten zur Kooperation und Koordination verpflichtet. Pflegeleistungen stehen grundsätzlich nachrangig zu den Hilfeleistungen der Eingliederungshilfe, soweit ein spezifischer behinderungsbedingter Bedarf vorliegt, der nicht durch Pflege abgedeckt werden kann. Überschneidende Bedarfe werden anhand der individuellen Bedarfsermittlung getrennt zugeschrieben, sodass eine doppelte Leistungsauszahlung vermieden wird. In Zweifelsfällen regelt die Abgrenzungsvereinbarung der Leistungsträger das Vorgehen.

Können Angehörige oder nahestehende Personen Leistungen der Eingliederungshilfe erbringen?

Grundsätzlich besteht die Möglichkeit, dass Angehörige oder nahestehende Personen als Leistungserbringer im Rahmen der Eingliederungshilfe fungieren, z. B. im Rahmen von Assistenzleistungen oder persönlichem Budget. Dies ist jedoch an bestimmte Voraussetzungen geknüpft: Die Leistungen müssen dem im Hilfeplan festgestellten Bedarf entsprechen und die Qualität und Wirtschaftlichkeit der Leistungserbringung muss gewährleistet sein. Zudem muss der Träger der Eingliederungshilfe dieser Konstellation explizit zustimmen und im Einzelfall prüfen, dass keine Interessenkonflikte vorliegen und das Wunsch- und Wahlrecht gewahrt bleibt.

Wie erfolgt die Kostenheranziehung bei der Eingliederungshilfe?

Die Eingliederungshilfe unterliegt – abhängig vom Lebensbereich – bestimmten Regelungen zur Kostenbeteiligung nach §§ 135 ff. SGB IX. Bei Leistungen zur medizinischen Rehabilitation und zur Teilhabe an Bildung ist keine Eigenbeteiligung vorgesehen. Bei Leistungen zur sozialen Teilhabe und existenzsichernden Hilfen erfolgt eine Heranziehung von Einkommen und Vermögen, die sich nach den jeweils geltenden Freibeträgen und individuellem Bedarf richtet. Maßgeblich sind dabei die Regelungen des SGB IX sowie ergänzende Verwaltungsanweisungen. Die Prüfung erfolgt im Rahmen eines Verwaltungsverfahrens, bei dem die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse offengelegt werden müssen. Eine Beratung und gegebenenfalls ein Widerspruch gegen einen Bescheid über die Heranziehung sind zulässig.