Legal Lexikon

Eidesnotstand


Begriff und Definition des Eidesnotstands

Der Eidesnotstand bezeichnet im deutschen Recht eine außergewöhnliche Notlage, in der eine Person gezwungen ist, einen Eid wider besseres Wissen zu leisten, um sich vor einer erheblichen eigenen Gefahr für Leib, Leben, Freiheit oder bedeutsame Vermögensinteressen oder die eines nahen Angehörigen zu schützen. Der Eidesnotstand ist im Strafgesetzbuch (§ 157 StGB) geregelt und stellt einen spezialgesetzlichen Rechtfertigungs- beziehungsweise Entschuldigungsgrund bei Falscheid dar.

Historische Entwicklung des Eidesnotstands

Der Gedanke, dass Personen in höchster Notlage nicht bestraft werden sollen, wenn sie unter dem Druck schwerwiegender Nachteile gegen das Gesetz verstoßen, ist im deutschen Recht bereits seit geraumer Zeit anerkannt. Die Regelung zum Eidesnotstand wurde eingeführt, um eine Balance zwischen der Bedeutung des Eides für die Rechtsfindung und dem Schutz individueller elementarer Rechtsgüter zu schaffen.

Gesetzliche Regelung des Eidesnotstands

Der Eidesnotstand ist ausdrücklich im Strafgesetzbuch geregelt. Die gesetzliche Grundlage bildet § 157 StGB:

„Wer einen Eid, zu dessen Ableistung er nach den §§ 154 bis 156 verpflichtet ist, unwahr schwört, um sich oder einen Angehörigen vor der Gefahr einer nicht anders abwendbaren erheblichen unmittelbaren Gefahr für Leben, Leib, Freiheit oder Vermögen zu retten, wird nicht bestraft.”

Anwendungsbereich: Bezug zu anderen Vorschriften

Der Eidesnotstand kann nur in Zusammenhang mit den sogenannten Eidesdelikten Anwendung finden, das heißt namentlich bei:

  • § 154 StGB – Meineid
  • § 155 StGB – Falsche Versicherung an Eides statt
  • § 156 StGB – Falsche eidesstattliche Versicherung außerhalb des Gerichts

Der Eidesnotstand ist damit ein speziell für diese Delikte geltender Rechtfertigungs- oder Entschuldigungsgrund.

Voraussetzungen des Eidesnotstands

Um den Eidesnotstand wirksam geltend zu machen, müssen bestimmte Voraussetzungen kumulativ erfüllt sein. Dabei kommt es auf folgende Kriterien an:

1. Abgabe einer vorsätzlich falschen Eidesleistung

Zunächst muss eine Person wissentlich den Inhalt eines Eides, einer Versicherung an Eides statt oder einer eidesstattlichen Erklärung falsch angeben.

2. Rettungsmotiv

Die falsche Eidesleistung muss mit dem Ziel erfolgen, sich selbst oder einen Angehörigen zu retten. Angehörige sind im Sinne von § 11 Absatz 1 Nr. 1 StGB insbesondere Ehegatten, Lebenspartner, Verwandte und verschwägerte Personen.

3. Bestehen einer erheblichen und unmittelbaren Gefahr

Es muss eine akute, erhebliche und unmittelbar drohende Gefahr für Leben, Leib, Freiheit oder bedeutende Vermögensinteressen bestehen. Nur bei erheblicher Gefahr ist der Eidesnotstand einschlägig; bei weniger schwerwiegenden Nachteilen greift er nicht.

4. Unabwendbarkeit der Gefahr

Die Gefahr muss nicht anders abwendbar sein. Das bedeutet, die wahrheitsgemäße Eidesleistung hätte unmittelbare gravierende Folgen für den Betroffenen oder den Angehörigen. Ein milderes, gleich wirksames Mittel zur Abwendung der Gefahr darf nicht zur Verfügung stehen.

Rechtsfolgen des Eidesnotstands

Erfüllt eine Person alle Voraussetzungen des § 157 StGB, entfällt die Strafbarkeit der Falscheid. Die betreffende Person wird für die vorsätzliche falsche Eidesleistung nicht bestraft. Es handelt sich dabei je nach Auslegung um einen Rechtfertigungs- oder Entschuldigungsgrund, wobei aus praktischen Gründen in der Regel lediglich das Strafbarkeitsdefizit im Vordergrund steht.

Verhältnis zum allgemeinen Notstand

Im Unterschied zum Eidesnotstand nach § 157 StGB existiert der allgemeine rechtfertigende Notstand (§ 34 StGB). Während § 34 StGB grundsätzlich für jegliche Straftaten anwendbar ist, greift § 157 StGB ausschließlich für Eidesdelikte. Zudem ist § 157 StGB speziell auf die besondere Konfliktsituation bei Eidesleistungen ausgelegt.

Abgrenzung zu anderen Notständen

Rechtfertigender Notstand (§ 34 StGB)

Der allgemeine rechtfertigende Notstand gemäß § 34 StGB kann neben § 157 StGB in Betracht kommen, wenn überwiegende Interessen geschützt werden sollen. Allerdings besteht hinsichtlich der Falscheid nach ständiger Rechtsprechung ein Vorrang des § 157 StGB gegenüber § 34 StGB.

Entschuldigender Notstand (§ 35 StGB)

Der entschuldigende Notstand wiederum ist auf Fälle beschränkt, in denen ein Täter keinen anderen Ausweg sieht, um eine gegenwärtige, nicht anders abwendbare Gefahr von sich oder Nahestehenden abzuwenden und dabei eine andere Person schädigt.

Anwendungsbeispiele und Fallgruppen

In der gerichtlichen Praxis ist der Eidesnotstand selten relevant. Allerdings gibt es typisierte Konstellationen, in denen er Bedeutung erlangen kann, etwa wenn eine Person unter erheblichem Druck steht, einen Angehörigen zu schützen und hierzu eine falsche eidesstattliche Erklärung abgibt, weil andernfalls massive Nachteile (zum Beispiel lebensbedrohliche Nachteile, schwerwiegende Verfolgung) drohen.

Kritik und Bedeutung in der Praxis

Kritisch diskutiert wird, dass der Anwendungsbereich des Eidesnotstands trotz der hohen Anforderungen in Ausnahmefällen ein „Recht zur Lüge” eröffnen kann. Jedoch beseht gesellschaftlich und rechtlich weitgehend Einigkeit, dass der Schutz elementarer Menschenrechte und familiärer Bindungen im Einzelfall Vorrang vor dem Schutz der Wahrheitspflicht im Rahmen der Eidesleistung haben kann. In der Praxis wird der Eidesnotstand dennoch nur höchst selten angenommen, da die Hürden für seinen Eintritt außerordentlich hoch liegen.

Literatur und weiterführende Informationen

  • Fischer, Thomas: Strafgesetzbuch und Nebengesetze, Kommentar, § 157 StGB
  • Streng, Felix: Die Behandlung der Falschaussage aus Notstand, in: NJW 2015, S. 2777 ff.
  • Tröndle/Fischer: Strafgesetzbuch und Nebengesetze, Kommentar, § 157 StGB

Zusammenfassung

Der Eidesnotstand ist eine gesetzlich normierte Ausnahmeregelung, die unter eng umrissenen Voraussetzungen dazu führt, dass eine falsche Eidesleistung nicht strafverfolgt wird, sofern eine erhebliche, unmittelbar drohende Gefahr nur durch die unwahre Aussage abgewendet werden kann. Die Vorschrift dient dem Schutz elementarer Individualinteressen gegenüber der staatlichen Objektivitätspflicht und findet explizit in Eidesdelikten Anwendung. Aufgrund der restriktiven Voraussetzungen kommt dem Eidesnotstand in der Praxis ein eher seltener, jedoch im Einzelfall bedeutsamer Anwendungsbereich zu.

Häufig gestellte Fragen

Welche rechtlichen Folgen hat ein Eidesnotstand für die strafrechtliche Verantwortlichkeit?

Gerät eine Person in eine Situation des Eidesnotstands, kann dies im Strafrecht unter Umständen zu einem Ausschluss oder einer Milderung der Strafbarkeit führen. Insbesondere im Kontext des Falscheids (§ 154 StGB) oder der falschen uneidlichen Aussage (§ 153 StGB) kann sich ein Zeuge, der eine falsche Aussage ablegt, um sich oder einen nahestehenden Angehörigen nicht zu belasten, auf Notstand rechtfertigen. Allerdings wird der Eidesnotstand von Gerichten nur in sehr engen Ausnahmefällen anerkannt, da der Gesetzgeber ein hohes Interesse an der Wahrheitspflicht und dem Funktionieren der Strafrechtspflege hat. § 34 StGB (rechtfertigender Notstand) regelt die allgemeine Notstandslage, wonach eine rechtswidrige Tat straffrei bleibt, wenn sie zur Abwehr einer gegenwärtigen Gefahr erforderlich ist und das geschützte Interesse das beeinträchtigte wesentlich überwiegt. Der Eidesnotstand wird hierbei meistens unter die abwägungsfähigen Interessen eingeordnet, wobei stets eine Einzelfallprüfung vorzunehmen ist.

Unter welchen Voraussetzungen wird ein Eidesnotstand im Strafverfahren anerkannt?

Für die Anerkennung eines Eidesnotstands müssen mehrere enge Voraussetzungen erfüllt sein. Die Gefahr muss gegenwärtig und nicht anders abwendbar sein, zudem muss ein überwiegendes Fremd- oder Eigeninteresse vorliegen, das es zu schützen gilt. Der Zeuge muss sich also in einer Gewissensnot befinden, in der das Ablegen eines wahren Eides ihn selbst oder einen Angehörigen einer erheblichen Gefahr für Leib, Leben, Freiheit oder sonst erheblichen Interessen aussetzen würde. Ein bloß abstraktes Risiko reicht nicht aus. Außerdem sind andere gesetzliche Möglichkeiten, wie das Zeugnisverweigerungsrecht nach §§ 52, 53 StPO, vorrangig zu prüfen und auszuschöpfen. Erst wenn solche Rechte nicht eingreifen oder in der konkreten Situation nicht ausreichen, kann ein tatsächlicher Eidesnotstand in Erwägung gezogen werden.

Welche Bedeutung hat das Zeugnisverweigerungsrecht im Zusammenhang mit dem Eidesnotstand?

Das Zeugnisverweigerungsrecht ist im Strafverfahren von herausragender Bedeutung, da es Zeugen – insbesondere Angehörigen des Beschuldigten oder in speziellen Berufsgruppen – gestattet, die Aussage zu verweigern. Im Zusammenhang mit dem Eidesnotstand wirkt dieses Recht als präventive Maßnahme, um Situationen eines Eidesnotstands möglichst zu vermeiden. Nach § 52 StPO dürfen insbesondere Angehörige (Ehegatten, Verlobte, Verwandte in gerader Linie oder Geschwister) die Aussage verweigern, um sich oder den Angehörigen nicht zu belasten. Ein Eidesnotstand kommt daher in aller Regel nur dann zum Tragen, wenn das Zeugnisverweigerungsrecht nicht gegeben ist oder aus bestimmten Gründen nicht ausgeübt werden kann, etwa weil die betreffende Person kein Angehöriger ist oder dieses Recht nicht wahrnimmt.

Kann der Eidesnotstand auch im Zivilprozess Bedeutung erlangen?

Im Zivilprozess ist der Eidesnotstand weniger relevant als im Strafverfahren, aber nicht völlig ausgeschlossen. Nach § 384 ZPO besteht ein Zeugnisverweigerungsrecht unter bestimmten Voraussetzungen, das etwa auf Ehegatten, Verlobte oder Berufsgeheimnisträger Anwendung findet. Ein Eidesnotstand könnte in Erwägung gezogen werden, wenn eine Partei – trotz Ausschöpfung aller prozessualen Schutzmöglichkeiten – durch die Eidesleistung eine erhebliche Gefahr für sich oder Dritte heraufbeschwören würde, beispielsweise durch drohende strafrechtliche Verfolgung. In der Praxis wird der Eidesnotstand im Zivilverfahren jedoch äußerst selten anerkannt, da die Zivilgerichte hohe Anforderungen an eine tatsächliche Notstandssituation stellen und die zahlreichen Zeugnisverweigerungsrechte meist ausreichen.

Wie beurteilen Gerichte den Eidesnotstand in der Praxis?

Die Rechtsprechung erkennt den Eidesnotstand nur in sehr seltenen Ausnahmefällen an und legt strenge Maßstäbe an die Begründung der Notstandslage. Zumeist weisen Gerichte darauf hin, dass die Lösung über die bestehenden Zeugnis- und Eidesverweigerungsrechte zu erfolgen habe, bevor eine Notstandslage angenommen werden kann. Insbesondere wird verlangt, dass der Betroffene belegbar darlegt, in welcher konkreten Lebenslage, mit welchem unmittelbaren Risiko für sich oder nahe Angehörige oder mit welchem schwerwiegenden Nachteil er durch die Ablegung eines wahrheitsgemäßen Eides konfrontiert wäre. Die bloße Angst vor Unannehmlichkeiten, gesellschaftlicher Ächtung oder vagen Nachteilen reicht nicht aus. Die Abwägung erfolgt stets anhand des konkreten Einzelfalls, wobei die Funktionsfähigkeit der Rechtspflege ein besonders schwer wiegendes Gegeninteresse darstellt.

Hat der Eidesnotstand Auswirkungen auf Disziplinar- oder Beamtenverfahren?

Auch im Disziplinar- oder Beamtenrecht kann ein Eidesnotstand eine Rolle spielen, etwa wenn Beamte oder Amtsträger im Rahmen ihrer Dienstpflichten zur Wahrheit unter Eid verpflichtet werden. Bei Vorliegen eines Eidesnotstands kann der Beamte unter Umständen – vergleichbar mit dem strafrechtlichen Notstand – von disziplinarrechtlichen Folgen befreit sein, sofern die Gefahr für das eigene Leben, die körperliche Unversehrtheit oder die Freiheit oder die eines Angehörigen ein Überwiegen gegenüber der Pflicht zur Wahrheitspflicht ergibt. Allerdings sind auch im Disziplinarrecht die rechtlichen Möglichkeiten der Aussage- und Eidesverweigerung sowie dienstliche Schutzvorschriften vorrangig zu klären und zu nutzen, ehe ein Eidesnotstand als Rechtfertigungsgrund akzeptiert werden kann. Die Anerkennung erfolgt auch hier nur im Ausnahmefall und unter strengen Voraussetzungen.