Begriff und Zielsetzung der Dublin-III-Verordnung
Die Dublin-III-VO (Verordnung (EU) Nr. 604/2013) ist ein zentrales Instrument des Europäischen Asylsystems und dient der Festlegung der Kriterien und Mechanismen zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz (Asylantrag) in der Europäischen Union zuständig ist. Sie wurde am 29. Juni 2013 vom Europäischen Parlament und vom Rat angenommen und ist seit dem 1. Januar 2014 unmittelbar in allen EU-Mitgliedstaaten sowie den assoziierten Staaten des Schengen-Raums (Island, Liechtenstein, Norwegen, Schweiz) anwendbar. Ihr Ziel ist es, Mehrfachanträge in verschiedenen Staaten zu verhindern und eine geordnete Verbescheidung zu gewährleisten.
Rechtlicher Hintergrund und Entwicklung
Historischer Rahmen
Die Dublin-III-Verordnung baut auf Vorgängervorschriften auf: dem Dubliner Übereinkommen von 1990 sowie der Dublin-II-Verordnung (EG) Nr. 343/2003. Die Dublin-III-VO nahm umfangreiche inhaltliche Anpassungen und Verfahrensconsolidierungen vor, um Grundrechtsschutz und Effizienz des Asylverfahrens zu stärken.
Rechtsgrundlagen
Die Dublin-III-VO ist als EU-Verordnung unmittelbar geltendes Recht und bedarf keiner weiteren Umsetzung in nationales Recht. Ergänzend wirken die Eurodac-Verordnung sowie Rechtsakte zur Festlegung von Mindeststandards für Aufnahmebedingungen und Anerkennungsverfahren.
Anwendungsbereich und Geltungsbereich
Die Verordnung findet Anwendung auf alle Anträge auf internationalen Schutz, die im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates gestellt werden, einschließlich Grenz- und Transitbereichen sowie im Zusammenhang mit irregulärem Aufenthalt. Sie gilt sowohl für Asylbewerber als auch für Drittstaatsangehörige und Staatenlose.
Systematik der Zuständigkeitsbestimmung
Reihenfolge der Zuständigkeitskriterien
Die Dublin-III-VO legt in den Artikeln 7 bis 15 eine gestufte Reihenfolge der Kriterien zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaates fest, darunter:
- Aufenthalt von Familienangehörigen mit Schutzstatus
- Vorherige Gewährung internationalen Schutzes
- Ausstellung von Aufenthaltsdokumenten oder Visa
- Irreguläre Einreise oder Aufenthalt
- Grenzübertritt
- Einreise in Begleitung Minderjähriger
Vorrang des Kindeswohls
Für unbegleitete Minderjährige legt die Verordnung einen klaren Vorrang des Kindeswohls und der Familienzusammenführung als entscheidendes Kriterium fest.
Verfahrensrechtliche Regelungen
Einleitung des Dublin-Verfahrens
Nach Stellung eines Asylantrags prüft der Staat, in dem der Antrag gestellt wurde, anhand der Kriterien, ob ein anderer Mitgliedstaat zuständig ist (Selbstprüfungspflicht). Stellt sich heraus, dass ein anderer Staat zuständig ist, muss dieser Staat innerhalb festgelegter Fristen um Übernahme oder Wiederaufnahme des Antragstellers ersucht werden.
Fristen und Verfahrensabläufe
Für Übernahme- und Wiederaufnahmeersuchen (Art. 21 ff. Dublin-III-VO) gelten strenge Fristen. Innerhalb von zwei Monaten muss das Ersuchen erfolgen, der ersuchte Staat hat in der Regel zwei Monate Zeit zur Beantwortung. Bei unbeantwortetem Ersuchen innerhalb dieser Frist gilt die Zustimmung als erteilt.
Durchführung der Überstellung
Erklärt sich der zuständige Staat bereit oder gilt diese als erteilt, wird der Antragsteller in der Regel innerhalb von sechs Monaten überstellt. Versäumt der zuständige Staat diese Frist, geht die Zuständigkeit auf den ersuchenden Staat über.
Rechtsschutz und Verfahrensgarantien
Der Antragsteller besitzt einen Rechtsbehelf gegen Überstellungsentscheidungen, der aufschiebende Wirkung haben kann (Art. 27 Dublin-III-VO). Ferner sind umfangreiche Informationspflichten (§§ 4, 5 Dublin-III-VO) sowie besondere Garantien bei schutzbedürftigen Personen, insbesondere Minderjährigen, vorgesehen.
Rechtsschutz und Grundrechtsschutz
Verfahrensrechte
Die Dublin-III-VO statuiert das Recht auf wirksamen Rechtsbehelf gegen Überstellungsentscheidungen, einschließlich Zugang zu Dolmetscherleistungen und rechtlichen Informationen. Die nationalen Gerichte haben bei Beschwerden insbesondere den Grundrechtsschutz der EU-Grundrechtecharta und der Europäischen Menschenrechtskonvention zu beachten.
Ausnahmen vom Zuständigkeitsmechanismus (Selbsteintritt und humanitäre Klauseln)
Die Verordnung enthält in Art. 17 die Möglichkeit des sogenannten Selbsteintrittsrechts: Jeder Staat kann sich freiwillig für die Prüfung eines Antrags zuständig erklären, selbst wenn er nach den Kriterien nicht primär verantwortlich wäre. Zudem regeln humanitäre Klauseln (Art. 16, 17) Sonderfälle bei familiären oder humanitären Härten.
Zusammenarbeit und Pflichten der Mitgliedstaaten
Datenübermittlung und Datenschutz
Die Dublin-III-VO regelt die Übermittlung personenbezogener Daten unter Einhaltung der Datenschutzbestimmungen der Eurodac-Verordnung und weiterer einschlägiger Vorschriften. Diese Daten dienen der Identitätsfeststellung und der Zuständigkeitsprüfung.
Zusammenarbeit in besonderen Fällen
Bei der Überstellung vulnerabler Personen, insbesondere von Minderjährigen oder schwer Erkrankten, bestehen besondere Koordinationspflichten und Anforderungen an die Verhältnismäßigkeit der Maßnahme.
Kritik und Reformdiskussionen
Die Praxis der Dublin-III-VO steht regelmäßig in der Diskussion, insbesondere aufgrund der ungleichen Verteilung von Asylanträgen auf die EU-Mitgliedstaaten (Stichwort: „Ersteinreisestaatenproblematik“) und der Überlastung insbesondere von Staaten an den EU-Außengrenzen. Die Europäische Kommission hat jüngst Vorschläge für eine Reform des gemeinsamen Europäischen Asylsystems vorgelegt, um eine solidarischere und effektivere Zuständigkeitsverteilung zu erreichen.
Literatur
- Verordnung (EU) Nr. 604/2013 (Dublin-III-VO)
- Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, „Die Dublin-III-Verordnung – System und Anwendung“, interne Materialien
- Hailbronner, K., „EU-Asylrecht: System und Rechtsprechung“, in: Handbuch des Ausländerrechts
Dieser Artikel bietet eine ausführliche, systematische und sachliche Beschreibung der Dublin-III-VO, ihrer rechtlichen Grundlagen sowie ihrer praktischen und verfahrenstechnischen Auswirkungen im europäischen Asylrecht.
Häufig gestellte Fragen
Welche Rolle spielt der Selbsteintritt nach Art. 17 Abs. 1 Dublin-III-VO im Verfahren?
Der Selbsteintritt nach Art. 17 Abs. 1 der Dublin-III-Verordnung (Regulation (EU) Nr. 604/2013) ist ein Ermessensspielraum der Mitgliedstaaten und stellt eine zentrale Ausnahme vom starren Zuständigkeitsmechanismus der Verordnung dar. Danach kann jeder Mitgliedstaat, auch wenn er nach den Bestimmungen der Verordnung eigentlich nicht zuständig wäre, beschließen, einen bei ihm gestellten Asylantrag selbst zu prüfen. Rechtlich betrachtet handelt es sich um ein echtes und weites Verwaltungs- bzw. behördliches Ermessen, das jedoch den allgemeinen unionsrechtlichen und nationalen Verwaltungsgrundsätzen, insbesondere dem Grundsatz effektiven Rechtsschutzes, der Gleichbehandlung sowie dem Diskriminierungsverbot unterliegt. Die Anwendung des Selbsteintritts ist nicht an besondere inhaltliche Voraussetzungen gebunden, sondern liegt vollständig im politischen oder humanitären Ermessen des jeweiligen Mitgliedstaates. Praktische Anwendungsfälle ergeben sich etwa bei familiären Härten, humanitären Erwägungen oder besonderem Schutzbedürfnis, ohne dass die Dublin-III-VO einen Katalog zwingend zu berücksichtigender Situationen vorgibt. Der Antragsteller hat grundsätzlich keinen Rechtsanspruch auf Ausübung des Selbsteintritts, kann jedoch im Rahmen der verwaltungsrechtlichen Grundsätze und vor nationalen Gerichten Rechtsschutz gegen die unterbliebene Ermessensausübung geltend machen, etwa wenn die Behörde ihr Ermessen überhaupt nicht oder fehlerhaft ausübt.
Wie gestaltet sich das Verfahren bezüglich Überstellungen und welche Fristen sind einzuhalten?
Das Überstellungsverfahren ist im Wesentlichen in den Art. 29, 30 sowie weiteren Vorschriften der Dublin-III-VO geregelt. Sobald die Zuständigkeit eines anderen Mitgliedstaates festgestellt ist und dieser Staat der Übernahme oder Wiederaufnahme zugestimmt hat, beginnt mit der Zustimmungsmitteilung die Überstellungsfrist von grundsätzlich sechs Monaten, innerhalb der die tatsächlich physische Überstellung des Asylantragstellers zu erfolgen hat. Wird die Überstellung nicht innerhalb dieser Frist durchgeführt, fällt die Zuständigkeit automatisch – kraft Gesetzes – auf den ersuchenden Mitgliedstaat zurück („Fristablaufwirkung“). Die Frist kann in bestimmten Fällen z.B. bei Inhaftierung des Antragstellers (Verlängerung auf 18 Monate) oder bei Untertauchen (Verlängerung auf 12 Monate) verlängert werden. Die Art und Weise der Überstellung hat im Einklang mit den Grundrechten und menschenwürdigen Bedingungen zu erfolgen; jegliche Anwendung von Zwang unterliegt strengen rechtlichen und ethischen Maßgaben. Innerhalb des Verfahrens sind für alle Verfahrensbeteiligten und -schritte detaillierte Informations-, Kooperations- und Dokumentationspflichten nachzuhalten.
Welche Rechtsbehelfe stehen dem Asylsuchenden gegen eine Überstellungsentscheidung zur Verfügung?
Gegen eine Überstellungsentscheidung besteht nach Art. 27 Dublin-III-VO ein subjektiver Rechtsbehelf, der dem Grundsatz des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes nach Art. 47 EU-Grundrechtecharta genügen muss. Hierzu hat der Asylsuchende entweder das Recht auf einen „automatischen aufschiebenden“ oder zumindest auf einen „suspensiven“ Rechtsbehelf, d.h. die Überstellung wird so lange ausgesetzt, bis über den Antrag entschieden wurde oder ein Gericht dieses ausdrücklich zulässt. Rechtsbehelfsfähige Akte betreffen sowohl die eigentliche Zuständigkeitsentscheidung als auch die Anordnung zur Überstellung. Inhaltlich überprüft werden können insbesondere: Das Vorliegen der Zuständigkeitsvoraussetzungen, die Einhaltung von Verfahrensvorschriften und Schutzgarantien des Gemein- und Unionsrechts sowie potentiell bestehende systemische Mängel im Asylverfahren des Zielstaates (maßgebliche Rechtsprechung: EuGH, „NS/ME“-Urteil). Die nationale Ausgestaltung und Fristsetzung des Rechtsbehelfs richtet sich nach den jeweiligen Verfahrensordnungen, diese müssen jedoch effektiv, zugänglich und verhältnismäßig ausgestaltet sein.
Nach welchen Kriterien bestimmt sich die Zuständigkeit eines Mitgliedstaats für die Prüfung eines Asylantrags?
Die Dublin-III-VO definiert in den Art. 3 ff. eine stufenweise abgestufte Zuständigkeitsprüfung, die hierarchisch zu durchlaufen ist. Zunächst ist die Zuständigkeit vorrangig auf Basis familiärer Bindungen und besonders schutzwürdiger Personenkreise (z.B. Minderjährige, Schutzbedürftige, Kernfamilienangehörige) zu bestimmen. In zweiter Linie gelten sachliche Kriterien wie die Ausstellung eines Visums oder einer Aufenthaltsgenehmigung, etwa durch einen bestimmten Mitgliedstaat innerhalb der letzten sechs Monate. Sodann ist das Kriterium des Überschreitens der EU-Außengrenze maßgeblich: Der Mitgliedstaat, in dem die erste Einreise und damit oft die biometrische Registrierung (Eurodac-System nach VO (EU) Nr. 603/2013) erfolgt, wird zuständig. Subsidiär erfolgt eine Prüfung danach, ob bereits in einem anderen Mitgliedstaat ein Asylverfahren anhängig oder abgeschlossen war. Die Anwendung der Kriterien ist zwingend vorgeschrieben, nationale Prärogativen oder Abweichungen sind nur in Ausnahmefällen, etwa über den Selbsteintritt, möglich.
Welche Informations- und Anhörungspflichten bestehen im Dublin-Verfahren gegenüber dem Antragsteller?
Die Dublin-III-VO legt in Art. 4 und 5 umfangreiche Informations- und Anhörungsrechte fest, um die Verfahrensrechte des Antragstellers zu sichern. Bereits bei Antragstellung ist der Antragsteller umfassend in einer für ihn verständlichen Sprache schriftlich und mündlich über das Dublin-Verfahren, dessen Zweck, Ablauf, mögliche Folgen und seine rechtlichen Rechte und Pflichten (insb. in Bezug auf Überstellungen, Rechtsmittel und Fristen) aufzuklären. Die Anhörungspflicht nach Art. 5 verpflichtet die zuständige Behörde, dem Antragsteller rechtliches Gehör zu gewähren, sodass er Tatsachen oder Umstände zu seiner persönlichen Situation, familiären Verbindungen oder medizinischen Problemen geltend machen kann, die die Zuständigkeitsprüfung oder eine mögliche Aussetzung der Überstellung betreffen. Die Verletzung dieser Pflichten kann zu Verfahrensfehlern mit entsprechenden Rechtsfolgen bis hin zur Unwirksamkeit der Überstellungsentscheidung führen.
Welche Bedeutung haben sogenannte „systemische Mängel“ im Asylsystem des zuständigen Mitgliedsstaates?
Systemische Mängel bezeichnet strukturelle Defizite im Asylsystem eines Mitgliedstaates, die zur Verletzung grundlegender Rechte führen können, insbesondere im Hinblick auf die menschenwürdige Unterbringung, Zugang zu Asylverfahren und effektiven Rechtsschutz. Nach der maßgeblichen Rechtsprechung (EuGH, Urteil „NS/ME“, C-411/10) sowie Art. 3 Abs. 2 Dublin-III-VO ist eine Überstellung in einen Mitgliedstaat unzulässig, wenn ernsthafte Gründe zu der Annahme bestehen, dass dem Antragsteller dort unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 EU-Grundrechtecharta (bzw. Art. 3 EMRK) droht. Behörden und Gerichte sind verpflichtet, die aktuelle konkrete Situation des Asylsystems im betreffenden Mitgliedstaat zu prüfen und ggf. zu dokumentieren. Werden systemische Mängel festgestellt, ist ein anderer Mitgliedstaat gemäß weiterer Anwendung der Zuständigkeitskriterien zu bestimmen; im äußersten Fall ist das Asylverfahren durch das zunächst befasste Land zu führen. Behörden müssen solche Hinweise eigenständig prüfen und dürfen sich nicht pauschal auf Zusicherungen anderer Mitgliedstaaten verlassen.