Begriff und Einführung: Dolus subsequens
Der Ausdruck dolus subsequens stammt aus dem Lateinischen und bezeichnet im Strafrecht einen „nachfolgenden Vorsatz“. Gemeint ist damit die erst nach Begehung einer rechtswidrigen Handlung einsetzende Willensrichtung des Täters, bezüglich einer bereits vollendeten Tat vorsätzlich gehandelt zu haben. Der Begriff hat insbesondere Bedeutung im Zusammenhang mit der Abgrenzung von Vorsatz und Fahrlässigkeit, sowie hinsichtlich der strafrechtlichen Verantwortlichkeit und der Zurechnung von Straftatbeständen.
Systematik im Strafrecht
Allgemeines zur Vorsatzlehre
Im Strafrecht ist der Vorsatz ein zentrales Tatbestandsmerkmal für die Strafbarkeit vieler Delikte. Vorsätzlich handelt, wer mit Wissen und Wollen die Verwirklichung eines Straftatbestandes herbeiführt. Der Vorsatz muss grundsätzlich die gesamte Deliktsverwirklichung umfassen und bei Begehung der tatbestandsmäßigen Handlung vorliegen (sogenannte „Vorsatzzeitpunktlehre“).
Abgrenzung: Dolus subsequens und vorhergehender Vorsatz
Der dolus subsequens unterscheidet sich von anderen Formen des Vorsatzes, etwa dem dolus antecedens, bei dem der Vorsatz bereits vor oder während der Tatbegehung vorhanden ist. Der dolus subsequens tritt erst nach Abschluss der tatbestandsmäßigen Handlung ein.
Keine Zurechnung des dolus subsequens
Für die strafrechtliche Verantwortlichkeit ist maßgeblich, dass der Vorsatz zum Zeitpunkt der Ausführung der Tat gegeben ist. Ein nachträglich entstandener Vorsatz (dolus subsequens) genügt nicht, um eine vorsätzliche Straftat zu begründen. Dies wird mit dem Grundsatz „actus non facit reum nisi mens sit rea“ („Eine Handlung macht nicht strafbar ohne ein schuldfähiges Bewusstsein“) erklärt. Die Handlung und der Vorsatz müssen zusammenfallen (Koinzidenzprinzip beziehungsweise Simultaneitätsprinzip).
Rechtshistorische Betrachtung
Bereits im römischen Recht wurde die Bedeutung des Vorsatzzeitpunkts hervorgehoben. In den Rechtsordnungen des Mittelalters und der frühen Neuzeit wurde der dolus subsequens bewusst aus der Zurechnung ausgeschlossen, um eine willkürliche strafrechtliche Verantwortung zu verhindern. Dieser Ausschluss ist Grundlage der modernen Vorsatzlehre im deutschen sowie weiteren kontinentaleuropäischen und angloamerikanischen Strafrecht.
Rechtsdogmatische Bedeutung des dolus subsequens
Tatbestandsvorsatz und das Simultaneitätsprinzip
Im deutschen Strafrecht ist anerkannt, dass der Vorsatz die einzelnen Elemente des objektiven Tatbestands erfassen und zum Zeitpunkt der tatbestandsmäßigen Ausführung vorliegen muss. Erfasst ein Täter beispielsweise zunächst einen Sachverhalt fahrlässig und erkennt erst nach Beendigung seiner Handlung die Umstände des Delikts und nimmt sodann den Vorsatz an, hat er die Tat nicht vorsätzlich begangen. Ein späterer Vorsatz kann nicht rückwirkend einen vorsätzlichen Tatbestand begründen. Maßgebend ist ausschließlich der Tatzeitpunkt.
Auswirkungen auf die Strafbarkeit
Da der dolus subsequens keine Zurechnung zur vorsätzlichen Tatbegehung ermöglicht, bleibt in derartigen Konstellationen regelmäßig nur die Sanktionierung nach einem Fahrlässigkeitsdelikt, sofern dieses gesetzlich strafbewehrt ist. Ein Beispiel ist der Körperverletzungstatbestand (§ 223 StGB): Erfolgt die Körperverletzung ohne Vorsatz, kann keine Strafbarkeit nach § 223 StGB eintreten, auch wenn der Täter unmittelbar danach den Taterfolg billigend in Kauf nimmt.
Bedeutung im Versuchsstadium
Im Versuchsstadium ist die Unterscheidung weitergehend von Bedeutung. Ein später Entschluss, eine bereits beendete Handlung zum Versuch einer Tat umzudeuten, ist irrelevant für die Strafbarkeit. Der Vorsatz muss zum Zeitpunkt der „unmittelbaren Tatbestandsverwirklichung“ gegeben sein.
Vergleichbare internationale Rechtsauffassungen
Kontinentaleuropäische Rechtsordnungen
In vielen kontinentaleuropäischen Systemen (z. B. Frankreich, Italien, Österreich) ist der zeitliche Zusammenhang zwischen Handlungsbegehung und Vorsatz ebenso unabdingbar. Nachträgliche Vorsatzbildungsakte bleiben straflos, sofern nicht ein anderes Delikt durch eine spätere Handlung verwirklicht wird.
Angloamerikanisches Recht
Auch im Common Law erkennt man das Koinzidenzprinzip („contemporaneity rule“) an. Der „after-acquired intent“ führt regelmäßig nicht zu einer vorsätzlichen Tatbestandsverwirklichung.
Praktische Relevanz und Anwendungsbeispiele
Typische Fallkonstellationen
- Jemand verletzt versehentlich eine andere Person und erkennt unmittelbar danach, dass die Verletzung absichtlich hätte herbeigeführt werden können. Allein der nachträgliche Vorsatz lässt die fahrlässige Handlung nicht als vorsätzliche Tat erscheinen.
- Im Bereich des Sachbeschädigungsdelikts (§ 303 StGB) ist etwa dann, wenn erst nach Beschädigung einer Sache der Vorsatz zur absichtlichen Beeinträchtigung gefasst wird, eine Strafbarkeit wegen vorsätzlicher Sachbeschädigung ausgeschlossen.
Auswirkungen im Strafprozess
Für die sachgerechte strafrechtliche Bewertung einer Tat ist die genaue Feststellung des inneren Willenszustands zur Tatzeit notwendig. Das Gericht muss daher ermitteln, ob und wann ein etwaiger Vorsatz vorlag. Der dolus subsequens bleibt in der Urteilsfindung rechtlich unbeachtlich.
Zusammenfassung und Bedeutung in der Rechtspraxis
Der dolus subsequens ist ein nachträglich gebildeter Vorsatz bezüglich einer bereits abgeschlossenen tatbestandsmäßigen Handlung. Nach vorherrschender Auffassung im Strafrecht entfaltet dieser nachträgliche Vorsatz keine strafbegründende Wirkung für Vorsatzdelikte, da maßgeblich der zum Tatzeitpunkt bestehende Vorsatz ist. Die genaue Abgrenzung von Zeitpunkt und Inhalt des Vorsatzes ist in der strafrechtlichen Dogmatik und der Rechtsprechung von fundamentaler Bedeutung für die korrekte Tatbestandszuordnung und die schuldangemessene Ahndung von Straftaten.
Literatur und weiterführende Hinweise
- Roxin, Claus: Strafrecht Allgemeiner Teil, Band I: Grundlagen. Der Aufbau der Verbrechenslehre, München (aktuelle Auflage).
- Wessels/Beulke/Satzger: Strafrecht Allgemeiner Teil, Heidelberg (aktuelle Auflage).
- Fischer, Thomas: Strafgesetzbuch und Nebengesetze. Kommentar, München (aktuelle Auflage).
Mit dieser Darstellung ist ein fundierter Überblick über den Begriff dolus subsequens und dessen umfassende Bedeutung im Strafrecht gewährleistet.
Häufig gestellte Fragen
In welchen rechtlichen Kontexten spielt der dolus subsequens eine Rolle?
Der dolus subsequens ist insbesondere im Strafrecht von Bedeutung, vor allem bei der Abgrenzung vorsätzlicher und fahrlässiger Delikte sowie im Rahmen der Zurechnung von Erfolgen zu einer Tat. Der Begriff findet sich häufig bei Delikten mit Erfolgsunrecht, etwa im Sachverhalt des Diebstahls oder bei Körperverletzungs- und Tötungsdelikten. Hier ist entscheidend, dass zwischen dem Zeitpunkt der tatbestandsmäßigen Handlung und dem Vorsatz des Täters unterschieden wird. Relevant wird der dolus subsequens insbesondere, wenn der Täter eine zunächst ohne Vorsatz begangene Tathandlung nachträglich geistig billigt oder sich mit dem Eintritt des Erfolges abfindet. Die strafrechtliche Diskussion dreht sich dann um die Frage, ob und inwieweit eine nachträgliche Vorsatzbildung zur Strafbarkeit führen kann, bzw. ob eine vorsätzliche Begehungsweise erst nachträglich angenommen werden kann. Auch im Zivilrecht kann der dolus subsequens zum Tragen kommen, etwa in Zusammenhang mit der vorsätzlichen sittenwidrigen Schädigung (§ 826 BGB).
Welche Rechtsfolgen ergeben sich bei Vorliegen eines dolus subsequens?
Wird festgestellt, dass der Täter den Vorsatz erst nach der tatbestandsmäßigen Handlung erlangt, hat dies in der Regel zur Folge, dass eine Strafbarkeit wegen eines Vorsatzdelikts ausscheidet. Nach herrschender Meinung ist für die Strafbarkeit wegen eines vorsätzlichen Delikts zwingend erforderlich, dass der Vorsatz bereits im Zeitpunkt der Tathandlung vorliegt (sog. Koinzidenzprinzip). Ein nachträglich gefasster Vorsatz – der dolus subsequens – genügt hierfür nicht. Der Täter kann daher allenfalls wegen eines Fahrlässigkeitsdelikts belangt werden, sofern die übrigen Voraussetzungen vorliegen. Im Ergebnis bleibt eine Verschärfung der Strafbarkeit wegen nachträglicher Billigung des tatbestandlichen Erfolgs in den meisten Fällen ausgeschlossen.
Wie wird der dolus subsequens von bloßen nachträglichen Motiven oder Rechtfertigungsgründen abgegrenzt?
Eine klare Abgrenzung ist erforderlich, da der dolus subsequens den nachträglichen Vorsatz beschreibt, der sich erst nach Vollendung der tatbestandsmäßigen Handlung manifestiert. Hingegen betreffen nachträgliche Motive lediglich die Gründe, die den Täter zur Begehung der Tat bewogen haben, ohne die Kenntnis und das Wollen des Tatbestandserfolges nachträglich herbeizuführen. Ebenso sind nachträgliche Rechtfertigungsgründe von entscheidender Bedeutung im Zusammenhang mit der Gesamtbewertung einer Straftat, führen jedoch nicht dazu, dass die tatbestandsmäßige Handlung nachträglich vorsätzlich wird. Somit ist es für die Qualifikation als dolus subsequens erforderlich, dass der Vorsatz sich ausschließlich auf den Tatbestand bezieht und erst nach dessen Verwirklichung eintritt.
Welche Relevanz hat der dolus subsequens bei Versuch und Vollendung?
Im Stadium des Versuchs ist der dolus subsequens ebenfalls von Bedeutung. Im deutschen Strafrecht ist für die Vollendung eines Delikts – wie auch beim Versuch – erforderlich, dass der Vorsatz bereits bei Vornahme der tatbestandlichen Handlung vorliegt. Erreicht der Täter diesen erst nach Vollendung aller objektiven Tatbestandsmerkmale, liegt kein vorsätzliches Delikt, sondern allenfalls ein vollendetes Fahrlässigkeitsdelikt oder, je nach Tatbestand, gegebenenfalls gar keine Strafbarkeit vor. Der Versuch setzt gemäß § 22 StGB ebenfalls voraus, dass der Täter mit Vorsatz unmittelbar zur Tatbestandsverwirklichung ansetzt. Nachträglich hinzutretender Vorsatz (dolus subsequens) genügt hierfür nicht.
Wie wird der dolus subsequens in Rechtsprechung und Literatur beurteilt?
Die herrschende Meinung in Rechtsprechung und Literatur lehnt es ab, einen nachträglich gefassten Vorsatz für die Annahme eines vorsätzlichen Delikts ausreichen zu lassen. Maßgeblich ist das Koinzidenzprinzip, das verlangt, dass Vorsatz und Tathandlung zeitlich zusammenfallen. Auch der Bundesgerichtshof hat wiederholt betont, dass ein Tatbestandsvorsatz, der erst nach der tatbestandsmäßigen Handlung vorliegt, einer Strafbarkeit wegen eines Vorsatzdelikts entgegensteht. Eine Mindermeinung, die eine Ausnahme für Fälle schwerster Delikte erwogen hat, konnte sich bislang nicht durchsetzen. Damit ist der dolus subsequens im überwiegenden Teil der Fälle strafrechtlich unbeachtlich.
Gibt es Deliktsarten oder spezielle Fälle, in denen der dolus subsequens berücksichtigt werden kann?
Grundsätzlich schließt das Koinzidenzprinzip eine Berücksichtigung des dolus subsequens aus. Allerdings gibt es Konstellationen, in denen der Sachverhalt näher zu prüfen ist, etwa bei unechten Unterlassungsdelikten oder Fortsetzungstaten, insbesondere dann, wenn mehrere Handlungsteile miteinander verknüpft sind und sich der Vorsatz im Laufe der Tathandlung entwickelt oder erst nachträglich manifestiert. In diesen Ausnahmefällen kann die genaue zeitliche Abgrenzung zwischen Tathandlung und Vorsatzbildung schwieriger sein. Dennoch bleibt es dabei, dass eine rein nachträgliche Vorsatzbildung nach abgeschlossener Tathandlung grundsätzlich unbeachtlich ist.
Welche Bedeutung kommt dem dolus subsequens im internationalen Vergleich zu?
Auch in anderen Rechtsordnungen wird auf das Erfordernis des zeitlichen Zusammentreffens von Vorsatz und Tathandlung abgestellt, wenngleich die einzelnen Dogmatiken unterschiedlich ausgestaltet sein können. Insbesondere im anglo-amerikanischen Law of Crimes spielt das Prinzip der „concurrence“, also der zeitlichen Übereinstimmung (concurrence of act and intent), eine zentrale Rolle. Die Problemstellungen im Zusammenhang mit dem dolus subsequens werden im internationalen Kontext meist ähnlich wie im deutschen Recht gesehen, wobei im Detail unterschiedliche Lösungswege bestehen können. Im Ergebnis bleibt der dolus subsequens auch international im Regelfall strafrechtlich unbeachtlich.