Begriff und Definition: Dolus generalis
Dolus generalis bezeichnet ein besonderes Konstrukt im Strafrecht, das sich aus der Problematik der Zurechnung des Vorsatzes bei mehraktigem Geschehen, insbesondere bei Irrtum über den Kausalverlauf (Kausalirrtum), entwickelt hat. Es handelt sich dabei um die Annahme eines allgemeinen Vorsatzes, der mehrere unterschiedliche Handlungsteile eines Geschehens zu einem Tatvorsatz zusammenfasst, selbst wenn der Täter die letztliche Kausalfolge im Zeitpunkt der ersten Handlung noch nicht kannte oder wollte.
Das Konzept des dolus generalis ist heute hauptsächlich von historischer und wissenschaftlicher Relevanz, da es im modernen deutschen Strafrecht keine Anerkennung mehr findet. Dennoch wird der Begriff weiterhin in der strafrechtlichen Literatur und Lehre diskutiert, da er bedeutende Fragestellungen zur Vorsatzzurechnung und zum Irrtum über den Kausalverlauf aufwirft.
Dogmatischer Hintergrund
Vorsatz im Strafrecht
Vorsatz bezeichnet im Strafrecht das Wissen und Wollen der Verwirklichung einer gesetzlichen Tatbestandsverwirklichung. Nach § 15 StGB setzt die Strafbarkeit einer Straftat grundsätzlich Vorsatz voraus, soweit nicht das Gesetz ausdrücklich etwas anderes bestimmt.
Die klassische Vorsatzform beschreibt einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen der konkreten Handlung und dem eingetretenen Taterfolg. Problematisch wird dieses Verständnis bei einer mehraktigen Geschehensabfolge, bei der der Täter im Zeitpunkt der ersten Handlung möglicherweise nicht sämtliche später eintretende Folgen kennt oder gebilligt hat.
Anwendungsfall und historische Entwicklung
Der dolus generalis wurde insbesondere anhand von sog. „Alt-Fällen“ erörtert, die den Irrtum über den Kausalverlauf zum Gegenstand haben. Ein bekanntes Beispiel ist der „Täter-A-erschlägt-und-danach-versteckt-Erfall“:
Eine Person schlägt das Opfer in der Annahme, es tödlich verletzt zu haben. Um Spuren zu verwischen, bringt sie die vermeintlich tote Person an einen anderen Ort, wo das Opfer tatsächlich durch das Verbringen an diesen Ort (etwa durch Ersticken) ums Leben kommt. Der Täter wusste im Moment des Verbringens nicht, dass das Opfer noch lebte und erst durch seine zweite Handlung getötet wurde.
Hier stellte sich die Frage, ob der Vorsatz auf den tatsächlichen Todeserfolg bei der zweiten Handlung (Verbringen des Opfers) erweitert werden kann, obwohl der Täter diesen bei Vornahme des Verbringens gar nicht mehr bezweckte, sondern davon ausging, der Erfolg sei bereits eingetreten. Die Antwort darauf wurde einst mit dem Konzept des dolus generalis gegeben: Ein „allgemeiner Vorsatz“ umfasse beide Handlungen als eine fortgesetzte, einheitliche Willensrichtung.
Kritische Auseinandersetzung und Ablehnung in der modernen Strafrechtswissenschaft
Die Figur des dolus generalis ist heute weitgehend abgelehnt. Sie wird als künstliche Konstruktion betrachtet, die das strafrechtliche Vorsatzsystem unterwandert. Die moderne Rechtswissenschaft befürwortet eine klare Tatbestandslösung, die nach einzelnen Handlungsteilen differenziert und bei jedem Akt eigenständig prüft, ob Vorsatz vorlag.
Hauptkritikpunkte
- Unbestimmtheit: Der dolus generalis verwischt die genaue zeitliche und sachliche Zuordnung von Vorsatz und Handlung, was dem Grundsatz von Tatbestandsmäßigkeit und Zurechnungslehre widerspricht.
- Tatbestandsspezifität: Vorsatz muss auf die konkrete Handlung und den konkreten Erfolg gerichtet sein, eine Generalisierung hebelt dieses Differenzierungsprinzip aus.
- Dogmatische Sauberkeit: Die Annahme eines „Gesamtvorsatzes“ bei tatsächlich getrennten Handlungen ist mit den Anforderungen an Tatbestand, Kausalität und Handlungslehre nicht vereinbar.
Lösung nach heutiger Auffassung
Nach heutiger Auffassung sind solche Fälle über den jeweiligen Vorsatz zum Zeitpunkt jeder einzelnen Handlung zu lösen. Sofern beim nachfolgenden Verhalten (z.B. Verstecken der vermeintlichen Leiche) kein Vorsatz auf Tötung mehr vorliegt, ist der Todeserfolg nicht vorsätzlich herbeigeführt, sondern es kommt der Tatbestand der fahrlässigen Tötung zur Anwendung, soweit Fahrlässigkeit bejaht werden kann. Eine Bestrafung wegen vorsätzlicher Tötung setzt voraus, dass der Täter den Erfolg willentlich herbeiführen wollte.
Dolus generalis im internationalen Vergleich
Auch in anderen Rechtsordnungen ist das Konstrukt des dolus generalis weitgehend obsolet. Das Konzept entsprach ursprünglich einer Zeit geringerer Differenzierung von Vorsatzbegriffen. In modernen Rechtssystemen, darunter dem deutschen, österreichischen und schweizerischen Strafrecht, herrscht heute ein differenziertes, auf den jeweiligen Handlungsabschnitt abgestimmtes Vorsatzverständnis.
Bedeutung des dolus generalis heute
Lehrbuch- und Prüfungsrelevanz
Obwohl der dolus generalis dogmatisch abgelehnt wird, hat die Auseinandersetzung mit der Figur einen hohen Wert für die Rechtsanwendung und -ausbildung. Die Prüfung einschlägiger Sachverhalte verlangt die differenzierte Anwendung der Kriterien des Vorsatzes bei mehraktigen Geschehensabläufen und die korrekte Abgrenzung zu Fällen des Kausalirrtums.
Rechtsdogmatik und Diskussion
Die Diskussion um den dolus generalis verdeutlicht die Bedeutung sauberer dogmatischer Unterscheidung zwischen Vorsatz, Irrtum und Zurechnung im Strafrecht. Sie ist ein beliebtes Beispiel für die Entwicklung des Rechts verständnis und für die Dynamik strafrechtlicher Begriffsbildung.
Zusammenfassung
Dolus generalis ist ein historisches strafrechtliches Konstrukt, das die Zurechnung des Vorsatzes bei mehraktigen Handlungen vereinfachen sollte, heute jedoch als unvereinbar mit einem differenzierten, handlungsbezogenen Vorsatzverständnis bewertet wird. Die Ablehnung dieser Figur markiert einen wichtigen Entwicklungsschritt in der Genese moderner Strafrechtsdogmatik, und ihre kritische Erörterung vertieft das Verständnis zentraler strafrechtlicher Prinzipien wie Tatbestand, Vorsatz und Irrtum.
Literaturhinweise
- Roxin, Claus: Strafrecht Allgemeiner Teil. Band 1: Grundlagen. Der Aufbau der Verbrechenslehre. 5. Auflage, 2023.
- Wessels/Beulke/Satzger: Strafrecht Allgemeiner Teil, 49. Auflage 2023.
- Lackner/Kühl: Strafgesetzbuch, 30. Auflage, 2024.
Häufig gestellte Fragen
Wie wird der dolus generalis im Rahmen der Zurechnung strafrechtlicher Erfolgsfolgen behandelt?
Im Strafrecht stellt sich bei Anwendung des dolus generalis vielfach die zentrale Frage, wie ein Täter für eine spätere, anders verlaufene Erfolgsverwirklichung haftbar gemacht werden kann, wenn diese nicht exakt seiner ursprünglichen Vorstellung entspricht, jedoch sein Unrechtserfolg trotzdem verwirklicht wird. Die Rechtsprechung in Deutschland geht davon aus, dass die Zurechnung der Erfolgsfolgen dann gerechtfertigt sein kann, wenn die nachfolgende Handlung (z. B. eine Tötungshandlung) – auch wenn sie erst zu einem späteren Zeitpunkt erfolgt – noch von dem ursprünglichen Vorsatz und Tatplan des Täters gedeckt ist. Maßgeblich ist, dass der Vorsatz des Täters sich auf den letztlich eingetretenen tatbestandlichen Erfolg erstreckt, auch wenn die Kausalität anders verläuft, als der Täter geplant hat. Im Ergebnis wird also auf die „Gesamttat“ abgestellt und der dolus generalis zur Begründung einer rechtlichen Einheit herangezogen, sodass für die Zurechnung eine einheitliche Bewertung möglich ist. Es findet keine strenge Tatbestandsanalyse im Hinblick auf die Einzelhandlung statt, sondern die Wertung richtet sich nach dem Gesamtgeschehen im Rahmen des subjektiven Tatplans.
Wie unterscheidet sich der dolus generalis von Irrtümern über den Kausalverlauf?
Der dolus generalis ist nicht mit dem sogenannten „Irrtum über den Kausalverlauf“ gleichzusetzen. Bei der Irrtumsproblematik geht es um die Frage, ob der Vorsatz eines Täters auch dann vorliegt, wenn der tatsächliche Kausalverlauf von der Vorstellung des Täters abweicht. Beim dolus generalis wird ein einheitlicher Vorsatz über mehrere Teilakte oder Geschehnisse hinweg angenommen, während beim Irrtum über den Kausalverlauf vielmehr geprüft wird, ob der tatsächliche Geschehensverlauf noch vom Vorsatz des Täters umfasst ist („Kausalirrtum“). Nach herrschender Meinung ist ein dolus generalis regelmäßig dann anzunehmen, wenn der abweichende Geschehensablauf nach allgemeiner Lebenserfahrung noch im Rahmen des Vorausgesehenen liegt und der Täter weiterhin die Verwirklichung des Tatbestandes wollte. Dagegen ist bei einem wesentlichen Kausalirrtum im Regelfall der Vorsatz ausgeschlossen, sofern der tatsächliche Ablauf nach der Lebenserfahrung außerhalb des Vorhersehbaren liegt.
Welche Bedeutung hat der dolus generalis für die Abgrenzung zwischen Vorsatz- und Fahrlässigkeitsdelikten?
Der dolus generalis spielt eine entscheidende Rolle bei der Deliktsabgrenzung, insbesondere zwischen Vorsatz- und Fahrlässigkeitstatbeständen. Wenn ein Täter zwar aus seinem ursprünglichen Tatentschluss heraus eine bestimmte Handlung vornimmt, der Erfolg aber erst bei einem späteren, vielleicht unbeabsichtigten Teilakt eintritt, stellt sich die Frage, ob er hierfür noch gezielt (also vorsätzlich) handelt oder ob bereits eine Fahrlässigkeit vorliegt. Die Anwendung des dolus generalis ermöglicht es, die Tat insgesamt dem Vorsatzdelikt zuzuordnen, wenn die späteren Handlungen oder Unterlassungen noch vom ursprünglichen Unrechtswillen getragen sind. Gelingt dies nicht, etwa weil ein Zäsur im Tatplan vorliegt oder sich der Täter nach der ersten Handlung in einem Irrtum über den Tod bzw. die Tatbestandsverwirklichung befindet, ist der Übergang zur Fahrlässigkeit gegeben und der vorsätzliche Tatbestand scheidet aus.
Gibt es deutsche Leitentscheidungen oder Grundsatzurteile zum dolus generalis?
Die Problematik des dolus generalis wurde in der deutschen Strafrechtsdogmatik ausführlich diskutiert, insbesondere unter Bezugnahme auf Entscheidungen des Reichsgerichts sowie des Bundesgerichtshofs. Eine klassische Fallkonstellation wurde vom Reichsgericht im „Bienengiftfall“ (RGSt 71, 78) und die berühmteste im „Holzklotzfall“ (RGSt 23, 375) behandelt. Später befasste sich der BGH in mehreren Urteilen mit den Anforderungen an die Reichweite und Beschränkung des dolus generalis, etwa beim sogenannten „Magazinschuppenfall“ (BGHSt 2, 150) und im „Todeszeitpunkt-Fall“ (BGHSt 3, 194). In diesen Grundsatzurteilen wurde der ursprüngliche Gedanke des dolus generalis mehrfach kritisch hinterfragt und näher ausdifferenziert. Der BGH hat insbesondere betont, dass nicht immer eine einheitliche Tat vorliegt und bei wesentlichen Unterbrechungen des Vorsatzes eine gesonderte Prüfung vorzunehmen ist.
Wie verhält sich der dolus generalis zu strafprozessualen Fragen, insbesondere bei Anklage und Strafzumessung?
Strafprozessual ist der dolus generalis vor allem beim Anklagevorwurf und der konkreten rechtlichen Würdigung von Bedeutung. Bei der Tatbeschreibung und der Subsumtion des Geschehens unter einen Straftatbestand ist zu prüfen, ob eine einheitliche Tat oder mehrere rechtlich selbständige Taten vorliegen. Die Annahme eines dolus generalis kann dazu führen, dass der gesamte Lebenssachverhalt unter einen einheitlichen Anklageposten gefasst wird, was auch für die Strafzumessung erhebliche Folgen hat. Liegt dagegen eine Trennung zwischen einzelnen Handlungsabschnitten (z. B. bei mehrfachen Angriffsakten mit verschiedenen Vorsätzen) vor, müssen diese separat gewürdigt und zur Anklage gebracht werden. Für den Angeklagten kann die Einstufung als Gesamtvorsatztat (dolus generalis) strafschärfend oder -mildernd wirken, je nach Gewichtung der Handlungseinheit.
Welche Kritikpunkte bestehen in der juristischen Literatur an der Anwendung des dolus generalis?
In der Strafrechtswissenschaft wird die Konstruktion des dolus generalis teils deutlich kritisiert. Hauptkritikpunkt ist, dass sie eine künstliche Einheitsbetrachtung schafft, wo tatsächlich mehrere selbständige Willensentscheidungen oder sogar ein Wechsel vom Vorsatz zur Fahrlässigkeit vorliegen könnten. Dies steht im Widerspruch zu modernen strafrechtlichen Vorsatzerfordernissen, die eine konkrete Tatausführung verlangen. Die Gefahr besteht darin, dass die normative Konstruktion des dolus generalis eine pauschale Täterbelastung zulässt, ohne genau zu prüfen, ob der Täter zum maßgeblichen Zeitpunkt tatsächlich noch vorsätzlich handelte. Gerade im Bereich der Tötungsdelikte ist nach Ansicht vieler Autoren daher eine enge Prüfung des konkreten Vorsatzes zum Zeitpunkt der letalen Handlung erforderlich.
Gibt es besondere Konstellationen oder Deliktstypen, in denen der dolus generalis typischerweise problematisch wird?
Besonders problematisch wird der dolus generalis immer dann, wenn zwischen der ersten und einer nachfolgenden Tathandlung wesentliche zeitliche, örtliche oder innere (psychische) Zäsuren eintreten. Typische Konfliktfelder sind Fälle der Körperverletzung mit Todesfolge, vorgestellte und tatsächliche Tötungsarten (z. B. der Täter glaubt, das Opfer sei bereits tot, und entsorgt dann die vermeintliche Leiche), aber auch bei unterlassenen Rettungshandlungen mit tödlichem Ausgang. Gerade bei zusammengesetzten Handlungsabläufen – wie etwa dem sogenannten „Scheintodfall“ oder dem „vermeidbaren Rettungsaufwand“ – ist eine differenzierte Anwendung und kritische Prüfung der Reichweite des dolus generalis zwingend erforderlich. In Deliktsbereichen mit besonderer Erfolgsqualifikation, wie etwa Tötungs- und Körperverletzungsdelikten, ist daher stets eine sorgfältige Prüfung des subjektiven Elements geboten.