Begriff und Grundidee des dolus generalis
Dolus generalis (lateinisch für „allgemeiner Vorsatz“) bezeichnet eine heute weitgehend aufgegebene Lehre zur Zurechnung von Vorsatz bei mehraktigen Geschehensabläufen, insbesondere in Tötungsfällen. Die Idee: Ein zu Beginn vorhandener Tötungsvorsatz sollte das gesamte weitere Geschehen „übergreifen“, auch wenn der Tod tatsächlich erst durch eine spätere Handlung eintritt, die der Täter in der irrigen Annahme vornimmt, das Opfer sei bereits tot. Mit dieser Konstruktion wurde früher eine vorsätzliche Tötung bejaht, obwohl der tödliche Erfolg nicht durch die ursprünglich als tödlich vorgestellte Handlung verursacht wurde.
In der heutigen Lehre wird dolus generalis überwiegend abgelehnt. Stattdessen wird differenziert geprüft, durch welche Handlung der Erfolg tatsächlich verursacht wurde und ob zu diesem konkreten Zeitpunkt Vorsatz bestand.
Dogmatischer Hintergrund
Vorsatz und Kausalverlauf
Vorsatz verlangt Wissen und Wollen der tatbestandlichen Umstände und des tatbestandlichen Erfolgs. Bei Tötungsdelikten bedeutet das: Der Täter muss den Tod eines Menschen zumindest billigend in Kauf nehmen. Komplex wird es, wenn der eingetretene Erfolg nicht dem vorgestellten, sondern einem abweichenden Kausalverlauf entstammt oder wenn mehrere, zeitlich getrennte Handlungen zusammentreffen.
Problemstellung bei mehraktigen Geschehensabläufen
Schwierig ist insbesondere die Lage, in der ein Täter zunächst eine lebensgefährliche Handlung vornimmt, das Opfer fälschlich für tot hält und es sodann „beseitigt“. Wenn gerade diese spätere Beseitigungshandlung den Tod verursacht, stellt sich die Frage, ob der ursprüngliche Tötungsvorsatz den späteren Erfolg „trägt“, obwohl in diesem Moment möglicherweise kein Vorsatz mehr vorlag. Die ältere Lehre des dolus generalis bejahte dies, um Strafbarkeitslücken zu vermeiden. Die moderne Sicht lehnt die pauschale Vorsatzübertragung ab.
Klassische Fallgruppen
Variante 1: Irrige Todesannahme, spätere Tötungshandlung
Sachverhaltsskizze
Ein Täter verletzt das Opfer schwer und hält es für tot. Um Spuren zu verwischen, bringt er den vermeintlichen Leichnam in eine Lage, die tatsächlich erst zum Tod führt (etwa Ersticken, Ertrinken, Unterkühlung).
Ältere Lösung (dolus generalis)
Die Lehre sah eine einheitliche Tat mit durchgängigem Vorsatz: Der anfängliche Tötungsvorsatz „erfasste“ auch den späteren tödlichen Akt. Ergebnis war eine vollendete vorsätzliche Tötung.
Heutige Einordnung
Heute wird regelmäßig getrennt: Der erste Akt ist eine versuchte Tötung (wenn der Tod ausblieb). Der zweite Akt ist die Ursache des Todes. Besteht in diesem Zeitpunkt Vorsatz (auch in der Form des Billigens), liegt eine vollendete vorsätzliche Tötung vor. Fehlt Vorsatz, kommt eine fahrlässige Tötung in Betracht, sofern Sorgfaltspflichten verletzt wurden. Damit entfällt die pauschale Vorsatzzurechnung.
Variante 2: Tod durch erste Handlung, weitere Handlungen folgen
Sachverhaltsskizze
Der Täter fügt dem Opfer in Tötungsabsicht eine Verletzung zu, die bereits tödlich ist. Er glaubt jedoch, das Opfer lebe noch, und nimmt zusätzliche Handlungen vor, die den Tod nicht mehr verursachen.
Heutige Einordnung
Der Tod wurde durch die erste Handlung herbeigeführt, zu der Vorsatz bestand. Die späteren Handlungen sind für den Erfolg ohne Bedeutung. Ergebnis ist eine vollendete vorsätzliche Tötung aufgrund des ersten Akts; die Folgeakte sind strafrechtlich gesondert zu prüfen, ohne die Zurechnung des Todes zu verändern.
Weitere Konstellationen
Mitwirkung Dritter
Kommt es nach der ersten Handlung durch Dritte zum tödlichen Erfolg, ist zu prüfen, ob der ursprüngliche Kausalverlauf unterbrochen wurde oder ob die Drittbeteiligung zurechenbar ist. Entscheidend sind Steuerung des Geschehens, Vorhersehbarkeit und die Frage, wessen Handlung den Tod tatsächlich verursacht und beherrscht hat.
Abgrenzung zu Irrtümern
Abweichung im Kausalverlauf: Bleibt der tatsächliche Ablauf in den Grenzen des nach allgemeiner Lebenserfahrung Erwartbaren, kann der Vorsatz unberührt bleiben. Ist die Abweichung wesentlich (zum Beispiel: der Tod resultiert nicht aus der gefährlichen Ersthandlung, sondern erst aus einer gänzlich neuen, andersartigen Folgehandlung), trägt der ursprüngliche Vorsatz den Erfolg regelmäßig nicht.
Error in persona und aberratio ictus: Verwechslungen des Opfers oder Fehlgehen des Angriffs betreffen andere Zurechnungsfragen und lösen nicht das Problem des zeitlich gestaffelten Geschehens, das dem dolus generalis zugrunde liegt.
Heutiger Stand in der Rechtslehre und Praxis
Überwiegende Ablehnung der Lehre
Die pauschale Zurechnung eines „allgemeinen Vorsatzes“ auf den gesamten Geschehensablauf widerspricht nach heutiger Sicht der genauen Zuordnung von Vorsatz zum konkreten Tötungsakt. Dolus generalis gilt daher überwiegend als überholt.
Moderne Lösungsansätze
– Versuch und Fahrlässigkeit: Fehlt beim späteren, tatsächlich tödlichen Akt Vorsatz, wird häufig eine Kombination aus versuchter Tötung (erster Akt) und fahrlässiger Tötung (zweiter Akt) angenommen.
– Vorsatz im zweiten Akt: Erkennt der Täter die Möglichkeit, dass das Opfer noch lebt, und findet sich hiermit ab, kann beim späteren Akt Vorsatz bejaht werden, was zu einer vollendeten vorsätzlichen Tötung führt.
– Unbeachtliche Abweichung: Tritt der Tod wie gewollt ein, nur auf geringfügig abweichendem Weg, bleibt der Vorsatz bestehen, ohne dass es eines dolus generalis bedarf.
Auswirkungen auf Konkurrenzfragen und Strafzumessung
Die Aufspaltung in mehrere Akte kann zu selbständigen Deliktseinheiten führen (etwa Versuch und Fahrlässigkeitsdelikt nebeneinander). Für die Bewertung der Schwere des Unrechts sind insbesondere der Umfang des Vorsatzes, die Intensität der Gefährdung, die Beherrschung des Geschehens und die Vorwerfbarkeit des späteren Handelns maßgeblich.
Abgrenzungen und prägende Kriterien
Irrtum über den Kausalverlauf
Ein Irrtum über den konkreten Ablauf ist unschädlich, wenn die Abweichung im Rahmen des Erwartbaren liegt. Wird der Erfolg dagegen durch eine qualitativ andere, neue Handlung herbeigeführt, ist der Irrtum wesentlich; der Vorsatz des ersten Akts deckt den späteren Erfolg dann regelmäßig nicht.
Unterbrechung des Kausalverlaufs
Führt eine spätere, eigenständige Handlung den Tod herbei, kann sie den ursprünglichen Kausalstrang unterbrechen. Maßgeblich sind Eigenverantwortlichkeit, Intensität und Vorhersehbarkeit der späteren Ursache.
Einheit oder Mehrzahl von Taten
Ob ein einheitlicher Lebenssachverhalt oder mehrere selbständige Taten vorliegen, hängt von zeitlicher Zäsur, Zielrichtung, Handlungsentschluss und der tatsächlichen Erfolgseintrittsursache ab. Die pauschale Einheitlichkeit, die dolus generalis annahm, wird nicht mehr vertreten.
Praktische Relevanz
Typische Beweisfragen
Besondere Bedeutung haben Feststellungen dazu, wann der Tod eintrat, welche Handlung ursächlich war und welche Vorstellungen der Handelnde zu den jeweiligen Zeitpunkten hatte. Medizinische Befunde, Spurenlage und Aussagen sind dabei zentral.
Bedeutung in Ausbildung und Praxis
Die Lehre des dolus generalis ist als historisches Konzept wichtig, um moderne Zurechnungsregeln, die Abgrenzung zwischen Vorsatz und Fahrlässigkeit sowie die Bewertung mehraktiger Geschehensabläufe besser zu verstehen.
Häufig gestellte Fragen (FAQ)
Was bedeutet dolus generalis?
Dolus generalis ist eine frühere Lehre, nach der ein einmal gefasster Tötungsvorsatz den gesamten weiteren Geschehensablauf erfassen sollte, selbst wenn der Tod erst durch eine spätere Handlung eintritt. Heute wird diese pauschale Vorsatzzurechnung überwiegend abgelehnt.
Gilt dolus generalis heute noch?
Die Lehre findet heute keine breite Anerkennung. Stattdessen wird der Vorsatz für jede rechtlich bedeutsame Handlung gesondert geprüft und dem tatsächlich tödlichen Akt zugeordnet.
Welche Rolle spielt der Vorsatz in diesen Fällen?
Entscheidend ist, ob zum Zeitpunkt der Handlung, die den Tod verursacht, Vorsatz bestand. Lag er nur beim ersten, nicht tödlichen Akt vor, genügt das regelmäßig nicht für eine vollendete vorsätzliche Tötung.
Worin liegt der Unterschied zwischen dolus generalis und einem Irrtum über den Kausalverlauf?
Dolus generalis übertrug pauschal den anfänglichen Vorsatz auf spätere Ereignisse. Beim Irrtum über den Kausalverlauf wird geprüft, ob die tatsächliche Abweichung vom vorgestellten Ablauf noch innerhalb des Erwartbaren liegt. Nur dann bleibt der Vorsatz unberührt.
Wie wird bewertet, wenn der Tod erst durch die Beseitigungshandlung eintritt?
Dann ist zu unterscheiden: Liegt beim Beseitigungsakt Vorsatz vor, kommt eine vollendete vorsätzliche Tötung in Betracht. Fehlt Vorsatz, kann eine fahrlässige Tötung neben einer versuchten Tötung im ersten Akt stehen.
Welche Bedeutung hat die irrige Annahme, das Opfer sei bereits tot?
Die irrige Todesannahme spricht häufig gegen Vorsatz beim späteren Akt, kann aber je nach Umständen eine fahrlässige Verursachung des Todes begründen. Erkennt der Handelnde die Möglichkeit fortbestehenden Lebens und findet sich damit ab, kann Vorsatz bejaht werden.
Wie wirken sich Beteiligungen mehrerer Personen aus?
Bei mehreren Beteiligten ist gesondert zu prüfen, wer welche Handlung vornahm, welche Vorstellungen die Beteiligten jeweils hatten und wessen Beitrag den Tod verursachte. Die frühere, pauschale Vorsatzzurechnung durch dolus generalis ist dafür kein geeignetes Instrument.