Begriff und Grundlagen des dolus eventualis
Der Begriff dolus eventualis bezeichnet im Strafrecht eine Form des bedingten Vorsatzes. Er beschreibt eine Situation, in der der Täter den Eintritt eines strafrechtlich relevanten Erfolges zwar nicht als sicher voraussieht oder ihn direkt anstrebt, aber dessen Möglichkeit erkennt und diesen Erfolg dennoch billigend in Kauf nimmt. Dolus eventualis steht hinsichtlich des Unrechts- und Schuldgehalts zwischen dem direkten Vorsatz (dolus directus) und der bewussten Fahrlässigkeit.
Abgrenzung und Einordnung
Im deutschen Strafrecht kommt dem dolus eventualis insbesondere bei der Abgrenzung zwischen vorsätzlichem und fahrlässigem Handeln eine entscheidende Bedeutung zu. Während beim direkten Vorsatz der Täter den Erfolg aktiv herbeiführen will (Absicht) oder dessen Eintritt als sicher vorhersieht (Wissentlichkeit), reicht beim dolus eventualis die ernsthafte Möglichkeit; der Täter hält den Erfolg für denkbar und nimmt diesen billigend in Kauf.
Dem dolus eventualis steht die bewusste Fahrlässigkeit (luxuria) gegenüber, bei der der Täter zwar den Erfolg erkennt, jedoch ernsthaft und pflichtwidrig darauf vertraut, dass dieser nicht eintritt.
Voraussetzungen des dolus eventualis
Im deutschen Strafrecht sind nach herrschender Meinung zwei Voraussetzungen erforderlich, die regelmäßig in einer sogenannten kognitiven und voluntativen Komponente beschrieben werden:
Kognitive Komponente
Die kognitive Komponente verlangt, dass der Täter die Möglichkeit des Erfolgseintritts erkennt. Es genügt dabei nicht jede beliebige Vorstellung der Tatfolgen. Der Täter muss eine genaue tatsächliche Kenntnis von den Umständen und eine konkrete Vorstellung vom möglichen Erfolgseintritt haben. Eine bloße abstrakte Gefahr reicht nicht aus, vielmehr muss nach dem individuellen Wissensstand der Person eine Chance bestehen, dass der Erfolg eintritt.
Voluntative Komponente
Bei der voluntativen Komponente ist ausschlaggebend, wie der Täter zum möglichen Erfolgseintritt steht. Dolus eventualis liegt nur dann vor, wenn der Täter den Erfolgseintritt zwar nicht wünscht, ihn aber dennoch billigend in Kauf nimmt. Entscheidend ist das In-Kauf-Nehmen; der Täter findet sich mit dem möglichen Erfolgseintritt ab oder nimmt diesen hin, um das eigentliche Ziel seiner Handlung zu erreichen.
Entscheidende Abgrenzungskriterien sind hier das „Sich-Abfinden“ mit dem Erfolg und das Maß der Risikoverlagerung. Für die voluntative Komponente ist die Täterperspektive maßgeblich; objektive Erkenntnismöglichkeiten sind lediglich Anhaltspunkte.
Theoretische Ansätze zur Bestimmung des dolus eventualis
Über die exakte Definition und Abgrenzung von dolus eventualis bestehen verschiedene Theorien in Rechtsprechung und Literatur. Wichtige Ansätze umfassen:
Möglichkeitstheorie
Diese Theorie stellt darauf ab, ob der Täter die Möglichkeit des Erfolgseintritts erkannt hat. Dies genügt jedoch nach herrschender Meinung nicht, da allein die Möglichkeitserkenntnis keine innere Stellungnahme (voluntative Komponente) indiziert.
Wahrscheinlichkeitstheorie
Bei der Wahrscheinlichkeitstheorie ist vor allem die Wahrscheinlichkeit des Erfolgseintritts für den Täter maßgeblich. Der dolus eventualis liegt demnach nur vor, wenn der Täter den Erfolg als wahrscheinlich ansieht und ihn billigt. Sie findet in der Praxis jedoch kaum Anwendung, da sie die notwendige subjektive Einstellung des Täters nicht ausreichend berücksichtigt.
Gleichgültigkeitstheorie
Die Gleichgültigkeitstheorie verlangt, dass es dem Täter gleichgültig ist, ob der Erfolg eintritt oder nicht. Die Gleichgültigkeit des Täters steht somit zwischen bewusster Fahrlässigkeit und bedingtem Vorsatz.
Billigungstheorie (herrschende Meinung)
Nach der Billigungstheorie, die heute weitgehend anerkannt wird, liegt dolus eventualis vor, wenn der Täter den möglichen Eintritt des tatbestandlichen Erfolgs erkennt und diesen billigt, d. h. sich mit ihm abfindet. Maßgeblich ist eine subjektive Bewertungs- und Billigungsentscheidung des Täters.
Praktische Bedeutung und Anwendungsbereiche
Dolus eventualis besitzt große praktische Relevanz für die Strafrechtsanwendung, da er oft bei der Einteilung in strafbegründende (vorsätzliche) und strafmildernde (fahrlässige) Delikte entscheidend ist.
Typische Anwendungsfälle
Zu typischen Fällen, in denen die Frage, ob dolus eventualis vorliegt, eine Rolle spielt, gehören:
- Gefährliche Körperverletzung, bei der der Täter mit der Möglichkeit einer schweren Gesundheitsschädigung rechnet
- Straßenverkehrsdelikte, besonders bei riskanten Fahrmanövern
- Brandstiftung, bei der der Täter die Möglichkeit für Personenschäden erkennt und dennoch handelt
Bewertung in der Rechtsprechung
Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH) hat die Anforderungen für die Annahme dolus eventualis mehrfach konkretisiert. Die Gerichte stellen häufig auf das „Sich-Abfinden“ und die konkrete Bewertung der Gefahr aus Tätersicht ab. Prüfkriterien sind unter anderem das Ausmaß der Gefahr, die subjektive Risikoeinschätzung und etwaige Vorkehrungen zur Verhinderung des Erfolgs.
Abgrenzungen zu anderen Vorsatzformen
Dolus eventualis ist strikt von anderen Vorsatzformen abzugrenzen:
- Dolus directus 1. Grades (Absicht): Zielgerichteter Wille, Erfolgseintritt ist oberstes Handlungsziel.
- Dolus directus 2. Grades (Wissentlichkeit): Sicheres Wissen um den Erfolgseintritt, auch wenn dieser nicht bezweckt ist.
- Leichtfertigkeit und bewusste Fahrlässigkeit: Der Täter hält den Erfolgseintritt für möglich, vertraut aber ernsthaft darauf, dass es nicht dazu kommt – im Gegensatz zum dolus eventualis.
Bedeutung im internationalen Kontext
Auch im internationalen Strafrecht und den Strafrechtssystemen anderer Länder existiert der Begriff des Eventualvorsatzes, teilweise mit abweichenden Definitionen und Anwendungsvoraussetzungen. Im common law beispielsweise werden die Vergleichsbegriffe wie „recklessness“ und „wilful blindness“ diskutiert, die aber nicht deckungsgleich mit dolus eventualis sind.
Beweisanforderungen und praktische Nachweisprobleme
Die Feststellung von dolus eventualis stellt an die Beweisführung besondere Anforderungen, da innere Vorgänge des Täters in der Regel nur anhand äußerer Umstände und Motivationslagen rekonstruiert werden können. Indizien können etwa die Gefährlichkeit der Handlung, frühere Erfahrungen des Täters oder seine Reaktionen im Tatablauf sein.
Fazit und Zusammenfassung
Dolus eventualis bildet eine zentrale Kategorie des Vorsatzes im deutschen Strafrecht und ist von erheblicher Bedeutung in der Praxis. Die genaue Abgrenzung zur bewussten Fahrlässigkeit stellt hohe Anforderungen, insbesondere bezüglich der subjektiven Stellungnahme des Täters zum Eintritt des Erfolgs. Die Billigungstheorie hat sich als Leitlinie etabliert, wobei die Täterperspektive im Mittelpunkt steht. Der Begriff und seine konkrete Auslegung sind sowohl Gegenstand beständiger rechtlicher Diskussion als auch der laufenden Weiterentwicklung durch die Rechtsprechung.
Siehe auch:
- Strafrechtlicher Vorsatz)
- Fahrlässigkeit
- [Subjektiver Tatbestand]
- [Strafzumessung bei dolus eventualis]
Häufig gestellte Fragen
Wie wird dolus eventualis im deutschen Strafrecht von der bewussten Fahrlässigkeit abgegrenzt?
Im deutschen Strafrecht ist die Abgrenzung zwischen dolus eventualis (Eventualvorsatz) und bewusster Fahrlässigkeit ein zentrales Problem der subjektiven Tatbestandsmerkmale. Während bei der bewussten Fahrlässigkeit der Täter zwar den Erfolgseintritt für möglich hält, aber darauf vertraut, dass dieser nicht eintritt, nimmt der Täter beim dolus eventualis den Erfolg billigend in Kauf. Deshalb verlangt die Rechtsprechung beim dolus eventualis neben der kognitiven Komponente („Für-Möglich-Halten“) auch eine voluntative Komponente, bei der der Täter den Erfolg nicht ernstlich verhindern möchte („Sich-abfinden-mit-dem-Erfolg“). Die Abgrenzung erfolgt also insbesondere anhand der inneren Einstellung des Täters zum möglichen Erfolgseintritt. Es kommt darauf an, ob der Täter trotz der Möglichkeit des Erfolges diesen hinnimmt (Eventualvorsatz) oder ob er darauf vertraut, dass er ausbleibt (bewusste Fahrlässigkeit). Indizien sind etwa die Gefahrgeneigtheit der Handlung, Art und Grad der subjektiven Risikobewertung sowie etwaige wertende Momente wie das soziale Umfeld und das Verhalten des Täters nach der Tat.
Welche Rolle spielt die so genannte Billigungstheorie im Rahmen des dolus eventualis?
Die Billigungstheorie ist eine der in Wissenschaft und Praxis anerkannten Theorien zur Bestimmung von dolus eventualis. Nach dieser Theorie ist entscheidend, ob der Täter den Erfolgseintritt innerlich gebilligt hat, also ob er sich mit dem möglichen Eintritt des tatbestandlichen Erfolgs abgefunden hat. Die bloße Kenntnis der Möglichkeit eines Erfolgseintritts reicht demnach nicht aus; vielmehr muss sich der Täter gesagt haben: „Wenn es passiert, dann ist das eben so.“ Die Billigungstheorie setzt damit eine innere Bejahung oder zumindest Hinnahmebereitschaft voraus. Diese Theorie ist insbesondere für die Rechtsprechung relevant, da sie den Unterschied zur bewussten Fahrlässigkeit deutlich macht. Die Billigungstheorie wird oftmals im Zusammenspiel mit anderen Ansätzen diskutiert, etwa der Wahrscheinlichkeitstheorie, die auf die subjektive Wahrscheinlichkeitsbewertung abstellt, oder der Gleichgültigkeitstheorie, die auf die Gleichgültigkeit des Täters gegenüber dem Erfolgseintritt fokussiert.
Welche Beweisschwierigkeiten bestehen beim Nachweis von dolus eventualis im Strafverfahren?
Der Nachweis von dolus eventualis im Strafverfahren gestaltet sich äußerst schwierig, da es sich um eine subjektive innere Einstellung handelt, die nur anhand äußerer Umstände erschlossen werden kann. Gerichtliche Feststellungen stützen sich in der Praxis auf Indizien wie Äußerungen des Täters, den Grad der Gefährlichkeit der Handlung, das nachträgliche Verhalten, besondere Erfahrung und Fachkunde des Täters sowie die Art und Weise der Tatausführung. Problematisch ist dabei insbesondere, dass Indizien unterschiedlich gewichtet und interpretiert werden können und immer die Gefahr besteht, nachträglich ein Wissen oder eine Billigung zu unterstellen, welches tatsächlich nicht vorgelegen hat. Die Gerichte müssen daher mit besonderer Sorgfalt vorgehen und das ansonsten herrschende Prinzip „in dubio pro reo“ (im Zweifel für den Angeklagten) beachten.
In welchen Deliktsbereichen ist dolus eventualis von besonderer Bedeutung?
Dolus eventualis ist insbesondere bei so genannten sogenannten vorsatzerforderlichen Delikten von erheblicher Bedeutung, beispielsweise bei der Abgrenzung zwischen vorsätzlicher und fahrlässiger Tötung (§ 212 StGB und § 222 StGB) oder bei Körperverletzungsdelikten (§ 223 StGB ff.). Besonders relevant wird der Eventualvorsatz zum Beispiel beim sogenannten „Autorennenfall“ oder „Raser-Fällen“, bei denen die Frage im Raum steht, ob ein Teilnehmer am illegalen Straßenrennen einen tödlichen Verkehrsunfall zumindest billigend in Kauf genommen hat. Auch bei Brandstiftungs- (§ 306ff. StGB) und Raubdelikten (§ 249 StGB) spielt dolus eventualis regelmäßig eine große Rolle, etwa wenn unklar ist, ob der Täter das Inkaufnehmen eines Schadens oder einer Verletzung nur billigend in Kauf genommen oder tatsächlich als Erfolg seiner Handlung erwartet hat.
Welche Auswirkungen hat dolus eventualis auf das Strafmaß?
Liegt im Rahmen eines Vergehens oder Verbrechens dolus eventualis vor, hat dies weitreichende Auswirkungen auf die Rechtsfolgen. Durch das Vorliegen von Vorsatz wird die Tat regelmäßig wesentlich schwerer bestraft als bei Fahrlässigkeit. Maßgeblich ist dabei, dass Vorsatzdelikte häufig wesentlich höhere Strafandrohungen vorsehen als fahrlässige Begehungen, zum Beispiel bei Tötungsdelikten, Körperverletzung, Brandstiftung oder Sachbeschädigung. Im Rahmen der Strafzumessung kann es jedoch eine Rolle spielen, dass lediglich Eventualvorsatz – und kein direkter Vorsatz – vorlag, sodass Gerichte dies unter Umständen strafmildernd berücksichtigen. Dennoch bleibt das grundsätzliche Differenzierungskriterium: Liegt dolus eventualis vor, scheidet die Anwendung fahrlässiger Delikte grundsätzlich aus.
Inwieweit ist dolus eventualis im Jugendstrafrecht relevant?
Auch im Jugendstrafrecht hat der dolus eventualis eine wichtige Bedeutung, da junge Straftäter nicht selten in Grenzsituationen zwischen bewusster Fahrlässigkeit und Eventualvorsatz handeln. Die subjektiven Voraussetzungen des dolus eventualis sind auch bei Jugendlichen und Heranwachsenden anzuwenden. Allerdings wird bei der Beurteilung oft das Alter, die Reife und die Fähigkeit zur Einsicht besonders berücksichtigt. Darüber hinaus liegt ein besonderes Augenmerk darauf, die psychischen und sozialen Entwicklungsstände zu würdigen, da diese die individuelle Handlungs- und Einsichtsfähigkeit, und damit auch die Vorsatzform, maßgeblich beeinflussen können.
Gibt es bedeutsame höchstrichterliche Urteile zum dolus eventualis?
In der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH) existieren zahlreiche wegweisende Entscheidungen zum dolus eventualis. Unter anderem wird in ständiger Rechtsprechung verlangt, dass der Täter den Taterfolg „billigend in Kauf nimmt“. Besonders bekannt sind die sogenannten „Raser-Fälle“, in denen der BGH mehrfach die Grenzen zwischen Eventualvorsatz und bewusster Fahrlässigkeit ausgelotet hat. In neueren Entscheidungen hat der BGH wiederholt betont, dass für dolus eventualis entscheidend sei, ob sich der Täter mit dem Erfolgseintritt im Sinne der Billigungstheorie tatsächlich abgefunden hat. Damit wurde eine weitere Konkretisierung der Abgrenzungskriterien geschaffen, die sowohl für die Praxis als auch für die Rechtswissenschaft hohe Relevanz besitzen.