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dolus antecedens


Begriff und rechtliche Einordnung von dolus antecedens

Dolus antecedens ist ein Begriff der Rechtswissenschaft, der primär im Strafrecht Verwendung findet. Übersetzt bedeutet er „vorhergehender Vorsatz“. Der Begriff bezieht sich auf eine besondere Form des Vorsatzes, bei welcher der Entschluss, eine bestimmte Straftat zu begehen, vor Durchführung der eigentlichen Tathandlung gefasst wurde, später aber zu Beginn oder während der Tatausführung nicht mehr besteht. Damit ist der dolus antecedens abzugrenzen vom dolus concomitans (begleitender oder gegenwärtiger Vorsatz) und dolus subsequens (nachfolgend entstandener Vorsatz).


Abgrenzung und Systematik des Vorsatzbegriffs

Definition des Vorsatzes im Strafrecht

Der Vorsatz stellt im Strafrecht das Wissen und Wollen der Tatbestandsverwirklichung in Kenntnis aller objektiven Merkmale dar. Er ist grundlegende Voraussetzung für die Begehung der meisten Straftaten. In der deutschen Rechtsordnung entsteht die Unterscheidung des Vorsatzzeitpunkts aus der Frage, zu welchem Zeitpunkt der Vorsatz vorliegen muss.

Arten des Vorsatzes nach dem Zeitpunkt der Willensbildung

  1. Dolus antecedens: Vorsatz liegt vor Beginn der Tat vor, entfällt jedoch bei Ausführung der Tat.
  2. Dolus concomitans: Vorsatz besteht während und zum Zeitpunkt der Tatbegehung.
  3. Dolus subsequens: Vorsatz entsteht erst nach Begehung der rechtswidrigen Handlung.

Rechtliche Bedeutung und Relevanz des dolus antecedens

Bedeutung im Strafrecht

Im Strafrecht ist für die Strafbarkeit grundsätzlich erforderlich, dass der Vorsatz zum Zeitpunkt der tatbestandsmäßigen Handlung besteht. Dies ist in § 16 Abs. 1 StGB (Strafgesetzbuch) normiert: Danach handelt ohne Vorsatz, wer bei Begehung der Tat einen Umstand nicht kennt, der zum gesetzlichen Tatbestand gehört.

Dolus antecedens genügt jedoch nicht für eine strafrechtliche Verantwortlichkeit, weil der Täter zum Zeitpunkt der Begehung gerade ohne Vorsatz handelt. Entscheidend ist allein der bei Begehung der Tat vorhandene Vorsatz (concomitans). Wird ein ursprünglich gefasster Tatentschluss (dolus antecedens) vor Tatausführung aufgegeben und die Tat dennoch rein fahrlässig oder sogar ohne Willen vorgenommen, entfällt die Strafbarkeit wegen vorsätzlicher Begehung.

Beispiel

Ein Täter plant, einen Dritten zu töten. Nach dem ursprünglichen Entschluss (dolus antecedens) verwirft er diesen Entschluss jedoch während der Tatausführung und handelt in der konkreten Situation ohne einen entsprechenden Vorsatz. Eine Verurteilung wegen vorsätzlicher Tötung ist somit ausgeschlossen.

Unterscheidung zum dolus concomitans

Der Strafbarkeit unterliegt lediglich der dolus concomitans, da dieser mit dem Zeitpunkt der Tathandlung zusammentrifft. Nur wenn der Vorsatz auch während der eigentlichen Tat besteht, kann ein vorsätzliches Delikt angenommen werden.


Dogmatische Einordnung und Rechtsfolgen

Dogmatischer Hintergrund

Die rechtswissenschaftliche Differenzierung zwischen dolus antecedens, dolus concomitans und dolus subsequens dient dazu, den Vorsatz rechtssicher und praxisgerecht abzugrenzen. Sie beruht auf dem Zentralgrundsatz, dass das Unrecht einer Tat, insbesondere im Strafrecht, an dem Willensgehalt während der Tathandlung und nicht an vormaligen oder nachfolgenden Willensbildungsprozessen gemessen wird.

Auswirkungen auf die Strafbarkeit

  • Dolus antecedens: Ausschluss der Strafbarkeit wegen vorsätzlicher Begehung, sofern der Vorsatz bei der Durchführung der Tat nicht mehr besteht.
  • Dolus subsequentens: Unerheblich für die Strafbarkeit, da der Wille erst nach der Tat entsteht.
  • Dolus concomitans: Voraussetzung für die Strafbarkeit bei echten Vorsatztaten.

Rechtsvergleichende Aspekte

Deutschsprachiger Rechtskreis

Im deutschen, österreichischen und schweizerischen Strafrecht gilt übereinstimmend das Koinzidenzprinzip (Grundsatz der Gleichzeitigkeit von Vorsatz und Handlung). Dies bedeutet, dass der Vorsatz zum Zeitpunkt der Tatbegehung („in tempore criminis“) bestehen muss. Dolus antecedens ist daher auch im österreichischen StGB und im schweizerischen StGB nicht ausreichend für eine Strafverurteilung wegen vorsätzlicher Straftaten.

Internationales Strafrecht

Auch im internationalen Strafrecht, insbesondere im Common Law, ist regelmäßig erforderlich, dass das „mens rea“ (schuldhaftes Bewusstsein) während der Tat besteht. Im angloamerikanischen Rechtskreis wird ebenfalls danach differenziert, wann der erforderliche subjektive Vorsatz vorliegt.


Bedeutung im Zivilrecht und weiteren Rechtsgebieten

Im Zivilrecht spielt der dolus antecedens allenfalls bei der Auslegung von Erklärungen oder bei der Beurteilung von Willensmängeln eine untergeordnete Rolle. Maßgeblich ist jedoch regelmäßig, dass der Vorsatz (beispielsweise bei der arglistigen Täuschung) im Zeitpunkt der relevanten Erklärung bestehen muss.


Zusammenfassung

Dolus antecedens bezeichnet den vor der Tathandlung gefassten, vor Tatbeginn jedoch wieder aufgegebenen Vorsatz. Strafrechtlich ist für die Verantwortlichkeit ausschlaggebend, dass zum Zeitpunkt der Tathandlung Vorsatz besteht (dolus concomitans). Die Figur des dolus antecedens besitzt primär theoretische Bedeutung zur Abgrenzung des relevanten Vorsatzzeitpunkts. Rechtsvergleichend gilt im gesamten deutschsprachigen Raum das Koinzidenzprinzip, sodass dolus antecedens für die Annahme vorsätzlicher Straftaten nicht ausreicht. Die begriffliche Differenzierung ist für das Verständnis der strafrechtlichen Dogmatik und zur Vermeidung von Wertungswidersprüchen von erheblicher Bedeutung.


Siehe auch

  • Vorsatz
  • Fahrlässigkeit
  • Tatbestandsmäßigkeit
  • Straftaten gegen das Leben

Quellen

  • Thomas Fischer: Strafgesetzbuch und Nebengesetze. Kommentar (aktuelle Auflage).
  • Roxin, Claus: Strafrecht – Allgemeiner Teil. Grundlagen und Aufbau der Verbrechenslehre. (aktuelle Auflage).
  • Schönke/Schröder: Strafgesetzbuch. Kommentar. (aktuelle Auflage).

Häufig gestellte Fragen

Welche Bedeutung kommt dolus antecedens in der Strafrechtsdogmatik zu?

Dolus antecedens, also der im Vorfeld der Tathandlung gefasste Vorsatz, spielt in der Strafrechtsdogmatik eine zentrale Rolle bei der Abgrenzung von strafbarem und nicht strafbarem Verhalten. Wesentlich ist, dass im deutschen Strafrecht für die Annahme von Vorsatz eine Übereinstimmung von Tatentschluss und Tathandlung im Zeitpunkt der Tatausführung verlangt wird (sog. Koinzidenzprinzip gemäß § 16 StGB). Dolus antecedens ist daher allein nicht ausreichend, um strafrechtliche Verantwortlichkeit zu begründen, sofern der Täter im Moment der Tat keine vorsatzmäßige Willensrichtung mehr besitzt. In der Strafrechtsdogmatik dient der dolus antecedens vor allem der Abgrenzung zu dolus concomitans (Vorsatz während der Tat) und dolus subsequens (nachträglicher Vorsatz) und ist essenziell für die Bestimmung des richtigen Anwendungsbereichs des Vorsatzes.

Wie wird dolus antecedens von Gerichten bei der rechtlichen Würdigung bewertet?

Die Gerichte prüfen bei der rechtlichen Bewertung stets, ob der dolus antecedens im entscheidenden Zeitpunkt, das heißt bei Begehung der Tat, noch vorhanden war. Rechtlich bedeutsam ist nur der sogenannte dolus concomitans, also der Vorsatz zur Tatzeit. Dolus antecedens bleibt rechtlich unbeachtlich, wenn sich der Vorsatz vor Tatbegehung aufgelöst hat, sei es infolge eines Sinneswandels oder auch des Vergessens. Nur wenn der zuvor gefasste Vorsatz im Moment der Tathandlung fortwirkt, kann er Berücksichtigung finden, wobei dies im Einzelfall sorgfältig zu ermitteln ist – etwa durch Geständnisse, Zeugenaussagen oder Indizien.

Welche Unterschiede bestehen zwischen dolus antecedens und dolus subsequens im strafrechtlichen Kontext?

Dolus antecedens bezeichnet den vor der Tatbegehung gebildeten Vorsatz, während dolus subsequens den nachträglich, also erst nach Vollendung der Tathandlung gefassten Vorsatz beschreibt. Juristisch ist maßgeblich, dass das Strafrecht einen dolus concomitans fordert: Nur der im Tatzeitpunkt bestehende Vorsatz ist strafbarkeitsbegründend. Während der dolus antecedens möglicherweise die Schwelle zur Strafbarkeit überschreiten kann, sofern er im Moment der Tat noch vorliegt, bleibt der dolus subsequens stets unbeachtlich, sodass eine nachträgliche Vorsatzbildung zur Qualifikation einer fahrlässig begangenen Tat als vorsätzliche nicht ausreicht.

Wie wird das Verhältnis von dolus antecedens und Verantwortung des Täters in Versuchsdelikten gesehen?

Im Bereich der Versuchsstrafbarkeit erhält der dolus antecedens besondere Bedeutung, da der Versuch ausdrücklich einen Tatentschluss, also Vorsatz, im Zeitpunkt der Ausführungshandlung voraussetzt (§ 22 StGB). Hat der Täter zwar ursprünglich einen Tatplan gefasst, diesen aber zum Zeitpunkt der für den Versuch erforderlichen Ausführungshandlung aufgegeben, entfällt die Strafbarkeit wegen Versuchs. Der dolus antecedens kann im Kontext des Versuchs also nur dann relevant werden, wenn der bereits gefasste Vorsatz im Zeitpunkt des Versuchsbeginns noch wirksam ist und sich im Handeln manifestiert.

Kann dolus antecedens bei Mittäterschaft oder mittelbarer Täterschaft rechtliche Relevanz entfalten?

Bei Mittäterschaft gemäß § 25 Abs. 2 StGB sowie mittelbarer Täterschaft (§ 25 Abs. 1 Alt. 2 StGB) wird ebenfalls auf den zum Tatzeitpunkt bestehenden Vorsatz abgestellt. Für die Strafbarkeit aller Beteiligten bedarf es eines gemeinsamen Tatentschlusses, der im Zeitpunkt der Tathandlung fortbestehen muss. Ein dolus antecedens könnte Anhaltspunkte für den Nachweis eines gemeinsamen Tatplans liefern, ist aber nur dann strafbegründend, wenn er für alle Beteiligten im Tatzeitpunkt noch aktuell ist; andernfalls entfällt die Zurechnung für diejenigen, bei denen der Vorsatz erloschen ist.

Inwiefern spielt dolus antecedens eine Rolle bei der Abgrenzung von Fahrlässigkeit und Vorsatz?

Die Abgrenzung von Fahrlässigkeit und Vorsatz erfolgt anhand des Bewusstseins und Wollens des Täters im Augenblick der Tat. Selbst wenn der Täter im Vorfeld einen entsprechenden Vorsatz hatte (dolus antecedens), liegt nur dann eine vorsätzliche Tatbegehung vor, wenn der Vorsatz während der Tatbegehung besteht. Ist der Täter während der Tatbegehung unaufmerksam oder wird von einem anderen Beweggrund geleitet, sodass der ursprüngliche Vorsatz nicht fortbesteht, so kann ihm nur Fahrlässigkeit zur Last gelegt werden, sofern die anderen Voraussetzungen vorliegen.

Welche Beweismittel sind geeignet, einen dolus antecedens festzustellen?

Die Feststellung des dolus antecedens erfolgt regelmäßig durch Indizien, Aussagen, Vorbereitungsakte, Notizen oder etwa durch Chat-Verläufe und Planungsunterlagen. Gleichwohl ist für die Zurechnung einer vorsätzlichen Tat entscheidend, ob aus diesen Beweismitteln auf einen fortdauernden, zum Tatzeitpunkt bestehenden Vorsatz geschlossen werden kann. Die bloße Existenz von Beweisen für einen dolus antecedens genügt zur Begründung der Strafbarkeit nicht, wenn die Möglichkeit besteht, dass der Vorsatz vor oder während der Tathandlung erloschen ist.