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Defensivnotstand


Begriff und Bedeutung des Defensivnotstands

Der Defensivnotstand ist ein zentraler Begriff des deutschen Straf- und Zivilrechts, insbesondere im Bereich der sogenannten Rechtfertigungsgründe. Der Defensivnotstand ermöglicht es einer Person, eine fremde Sache zur Abwendung einer gegenwärtigen Gefahr für ein rechtlich geschütztes Interesse zu beschädigen oder zu zerstören, ohne sich dadurch grundsätzlich strafbar zu machen. Der rechtliche Rahmen des Defensivnotstands ist in § 228 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) geregelt. Darüber hinaus bestehen Bezüge zum Strafrecht, insbesondere zur Notwehr und zum Notstand gemäß § 34 Strafgesetzbuch (StGB).


Gesetzliche Grundlagen

§ 228 BGB – Defensivnotstand

Nach § 228 BGB ist die Beschädigung oder Zerstörung einer fremden Sache nicht rechtswidrig, wenn dies erforderlich ist, um eine gegenwärtige Gefahr von sich oder einem Dritten abzuwenden und die Gefahr von der Sache selbst ausgeht. Die Vorschrift lautet:

„Wer eine fremde Sache beschädigt oder zerstört, um eine von der Sache ausgehende Gefahr von sich oder einem anderen abzuwenden, handelt nicht widerrechtlich, wenn die Beschädigung oder Zerstörung zur Abwendung der Gefahr erforderlich ist.“

Verhältnis zu anderen Rechtfertigungsgründen

Der Defensivnotstand ist strikt abzugrenzen vom Angriffsnotstand (§ 904 BGB) und von der Notwehr (§ 32 StGB). Beim Defensivnotstand geht die Gefahr zwingend von der betreffenden Sache selbst aus, während beim Angriffsnotstand eine andere Sache zur Abwendung einer Gefahr verwendet werden darf, selbst wenn diese Gefahr von einem anderen Verhalten herrührt.


Anwendungsbereich

Tatbestand des Defensivnotstands

Für das Vorliegen eines Defensivnotstands müssen folgende Voraussetzungen erfüllt sein:

  1. Fremde Sache

Die betreffende Sache darf nicht im Eigentum des Handelnden stehen.

  1. Von der Sache ausgehende Gefahr

Es muss eine gegenwärtige Gefahr vorliegen, die unmittelbar von der Sache selbst ausgeht. Beispiele dafür sind ein entlaufener Hund, der einen Menschen bedroht, oder ein brennender Gegenstand, der ein Gebäude gefährdet.

  1. Erforderlichkeit der Handlung

Die Beschädigung oder Zerstörung der Sache muss das relativ mildeste Mittel sein, um die Gefahr abzuwenden. Es darf kein anderes, gleich wirksames, aber weniger einschneidendes Mittel zur Verfügung stehen.

  1. Abwägung der Interessen (Angemessenheit)

Die drohende Gefahr muss im Verhältnis zum entstandenen Schaden an der Sache überwiegen. Die Handlung ist nicht gerechtfertigt, wenn der durch die Beschädigung oder Zerstörung entstehende Schaden erkennbar außer Verhältnis zu der Gefahr steht.

Rechtliche Folgen

Ist der Tatbestand des Defensivnotstands gemäß § 228 BGB erfüllt, so entfällt die Rechtswidrigkeit der Handlung. Daraus folgt insbesondere:

  • Der Handelnde ist von zivilrechtlicher Haftung für die Beschädigung oder Zerstörung der Sache befreit.
  • Strafrechtliche Konsequenzen wegen Sachbeschädigung nach § 303 StGB treten in diesen Fällen nicht ein.

Abgrenzung zu verwandten Rechtsinstituten

Notwehr (§ 32 StGB)

Notwehr liegt vor, wenn sich eine Person gegen einen rechtswidrigen Angriff verteidigt. Die Gefahr muss hier jedoch nicht zwingend von einer Sache ausgehen, sondern kann sich auch auf Handlungen von Personen beziehen.

Angriffsnotstand (§ 904 BGB)

Nach § 904 BGB darf eine fremde Sache beschädigt werden, um eine gegenwärtige Gefahr, die nicht von dieser Sache, sondern von einer anderen Quelle ausgeht, abzuwehren. Der klassische Anwendungsfall ist, wenn zur Rettung eines bedrohten Rechtsguts eine fremde Sache eingesetzt oder beschädigt wird.

Notstand (§ 34 StGB)

§ 34 StGB regelt den sogenannten übergesetzlichen Notstand, bei dem eine Gefahr abgewendet wird, indem Rechtsgüter gegeneinander abgewogen werden. Der Defensivnotstand ist insofern eine speziellere Norm.


Fallbeispiele und typische Konstellationen

Brandgefahr

Gerät ein brennendes Fahrzeug in die Nähe eines Wohnhauses, so darf das Fahrzeug unter bestimmten Voraussetzungen zerstört oder weggeschoben werden, um das Gebäude zu schützen. Die Bedrohung geht unmittelbar vom Fahrzeug (der Sache) aus; ein klassischer Fall des Defensivnotstands.

Tierabwehr

Greift ein Hund einen Menschen an und droht ihn zu verletzen, ist es zulässig, das Tier notfalls zu verletzen, um die Gefahr abzuwehren. Auch hier entstammt die Gefährdung der Sache (dem Tier) selbst.


Grenzen und Schranken des Defensivnotstands

Nicht jeder Eingriff in eine fremde Sache ist durch den Defensivnotstand gerechtfertigt. Die Interessen des Eigentümers und der Schutz des bedrohten Rechtsguts sind gegeneinander abzuwägen. Insbesondere ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit strikt zu beachten.

Ferner besteht der Defensivnotstand nur so lange, wie die Gefahr tatsächlich von der betreffenden Sache ausgeht und Gegenwärtigkeit gegeben ist. Nach Wegfall der Gefahr kann der Rechtfertigungsgrund nicht mehr herangezogen werden.


Verhältnis zum Schadensersatzrecht

Zwar entfällt bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 228 BGB die Haftung für die beschädigte Sache, jedoch können in Ausnahmefällen Ansprüche aus ungerechtfertigter Bereicherung oder anderen spezialgesetzlichen Regelungen bestehen bleiben. Eine Haftung für vorsätzliche oder unangemessene Überschreitungen des Notstands bleibt ebenfalls unberührt.


Zusammenfassung

Der Defensivnotstand ist ein gesetzlich normierter Rechtfertigungsgrund, der es ermöglicht, zum Schutz eines überragenden Rechtsguts eine von einer Sache ausgehende Gefahr durch deren Zerstörung oder Beschädigung abzuwehren, ohne sich dadurch rechtswidrig zu verhalten. Seine Anwendung setzt eine sorgfältige Interessenabwägung und Beachtung der Verhältnismäßigkeit voraus. Die genaue rechtliche Prüfung im Einzelfall bleibt unabdingbar.


Literaturhinweis:
Die einschlägige Kommentarliteratur zu § 228 BGB sowie weiterführende Handbücher zum Allgemeinen Teil des Bürgerlichen Gesetzbuchs bieten zusätzliche Erläuterungen und Einzelfallentscheidungen. Rechtsprechung und wissenschaftliche Aufsätze ergänzen das Verständnis für praktische Anwendungen des Defensivnotstands.

Häufig gestellte Fragen

Welche Voraussetzungen müssen für die Annahme eines Defensivnotstands erfüllt sein?

Für die Annahme eines Defensivnotstands müssen mehrere gesetzlich und durch die Rechtsprechung herausgearbeitete Voraussetzungen erfüllt sein. Zunächst ist das Vorliegen einer gegenwärtigen Gefahr für ein notstandsfähiges Rechtsgut erforderlich, also etwa Leben, Gesundheit, Eigentum oder andere bedeutende Rechtsgüter. Die Gefahr muss so beschaffen sein, dass ihr Eintritt unmittelbar bevorsteht oder bereits begonnen hat. Weiterhin muss die durchgeführte Handlung erforderlich sein, um die Gefahr abzuwehren, wobei keine mildere, ebenso effektive Möglichkeit zur Gefahrenbeseitigung zur Verfügung stehen darf. Außerdem setzt der Defensivnotstand voraus, dass das durch die Abwehrhandlung beeinträchtigte Rechtsgut dem des Bedrohten zumindest gleichwertig ist, wobei in § 228 BGB („Defensivnotstand“) auch eine Güterabwägung stattfindet. Die Handlung muss schließlich auch subjektiv durch das Bewusstsein geprägt sein, eine Gefahr abzuwehren, d. h. sie darf nicht aus anderen Motiven erfolgen. Überdies darf kein Verschulden des Handelnden bezüglich der Gefahr herbeiführung vorliegen. Die Maßnahme selbst muss zudem verhältnismäßig, angemessen und sozialethisch tolerierbar sein.

Welche Rolle spielt die Erforderlichkeit beim Defensivnotstand?

Die Erforderlichkeit spielt im Rahmen des Defensivnotstands eine zentrale Rolle. Sie bedeutet, dass nur diejenigen Maßnahmen rechtlich zulässig sind, die geeignet und das mildeste zur Verfügung stehende Mittel zur Abwehr der gegenwärtigen Gefahr darstellen. Das bedeutet, die Verteidigungshandlung darf nicht über das zur Gefahrenabwehr Notwendige hinausgehen. Kann die Gefahr etwa schon durch ein weniger einschneidendes Mittel, beispielsweise durch das Verstellen eines Gegenstandes anstelle seiner Zerstörung, abgewendet werden, wäre die Zerstörung nicht mehr vom Notstandsrecht gedeckt. Die Prüfung der Erforderlichkeit ist stets einzelfallbezogen und erfordert eine Güter- und Interessenabwägung unter Berücksichtigung aller Umstände. Wählt der Handelnde ein unverhältnismäßiges Mittel, riskiert er, für daraus entstehende Schäden zivil- oder strafrechtlich zur Verantwortung gezogen zu werden.

Inwiefern unterscheidet sich der Defensivnotstand von anderen Notstandsregelungen?

Der Defensivnotstand unterscheidet sich von anderen Notstandsregelungen insbesondere in Bezug auf das Verhältnis der betroffenen Rechtsgüter und die daraus resultierende Zulässigkeit der Verteidigungshandlung. Während etwa beim sogenannten Aggressivnotstand (§ 904 BGB) die Gefahr von einer Sache selbst ausgeht und an fremden Sachen Schaden zur Abwehr einer Gefahr angerichtet werden darf, ist beim Defensivnotstand (§ 228 BGB) maßgeblich, dass die Gefahr vom Besitzer einer Sache ausgeht und dieser zur Gefahrenabwehr an seiner eigenen Sache beeinträchtigt werden darf. Im Strafrecht existieren parallele Konstellationen (§ 34 StGB), wobei auch hier eine umfassende Güterabwägung erforderlich ist. Im Unterschied zum Notwehrrecht (§ 32 StGB) ist beim Defensivnotstand kein gegenwärtiger rechtswidriger Angriff, sondern eine Gefahr im weiteren Sinne abzuwehren, sodass die Anwendbarkeit auf ein breiteres Spektrum an Fällen ausgeweitet wird.

Welche Rechtsfolgen hat das Vorliegen eines Defensivnotstands nach BGB?

Liegt ein Defensivnotstand nach § 228 BGB vor, ist der Handelnde befugt, einer von einer fremden Sache ausgehenden Gefahr für ein notstandsfähiges Rechtsgut auch durch Einwirkung auf eben diese Sache zu begegnen. Die Einwirkung auf die lieblose Sache ist dann nicht widerrechtlich, sodass zivilrechtliche Ansprüche des Geschädigten, insbesondere auf Schadensersatz nach § 823 BGB, ausgeschlossen sein können. Allerdings ist der Abwehrende verpflichtet, sofern die Voraussetzungen der Vorschrift dies gebieten, dem Eigentümer der beschädigten Sache einen Ausgleich zu leisten, wenn und soweit dies unter Abwägung aller Umstände und beiderseitiger Interessen geboten ist (§ 228 Satz 2 BGB). Im öffentlichen Recht kann der Defensivnotstand bei der rechtfertigenden Handlung von Amtsträgern zum Tragen kommen, im Strafrecht wirkt er als Rechtfertigungsgrund und schließt die Strafbarkeit aus.

Wie wird die Güterabwägung beim Defensivnotstand vorgenommen?

Die Güterabwägung beim Defensivnotstand ist ein zentrales Element. Es wird das bedrohte Rechtsgut des Handelnden dem beeinträchtigten Rechtsgut des Störers gegenübergestellt. Maßgeblich sind dabei unter anderem der Wert, die Bedeutung und die Schutzwürdigkeit der Rechtsgüter im konkreten Fall. Nur wenn das geschützte Interesse das beeinträchtigte mindestens gleichwertig, in der Regel jedoch sogar höherrangig ist, kann die Handlung als vom Notstand gedeckt gelten. So darf etwa eine nicht erhebliche Sachbeschädigung vorgenommen werden, um erhebliche Personenschäden zu verhindern. Umgekehrt ist eine schwerwiegende Sachzerstörung zur Abwehr bloß geringfügiger Schäden in der Regel unverhältnismäßig. Die Güter- und Interessenabwägung erfolgt daher immer unter Berücksichtigung aller konkreten Umstände und der betroffenen Interessenlagen.

Sind Handlungen im Defensivnotstand immer frei von Haftungsfolgen?

Nein, Handlungen im Defensivnotstand sind nicht grundsätzlich frei von Haftungsfolgen. Zwar kann der Handelnde durch die Rechtfertigung des Defensivnotstands nach § 228 BGB von einer zivilrechtlichen Haftung für die Beschädigung einer Sache befreit sein, doch besteht gemäß § 228 Satz 2 BGB unter bestimmten Voraussetzungen eine Pflicht zum Schadensausgleich, wenn und soweit dies aufgrund der Interessenlage billig erscheint. Dies zielt auf eine gerechte Verteilung des Schadensrisikos und verhindert unbillige Belastungen des Geschädigten. Zudem können im Einzelfall etwaige weitergehende Pflichten bestehen, etwa eine Pflicht zur Schadensminderung oder zur Anzeige der Schadensverursachung. Im strafrechtlichen Kontext entfällt jedoch die Strafbarkeit, sofern die Voraussetzungen für den Defensivnotstand vorliegen.