Begriff und Einordnung des Defensivnotstands
Der Defensivnotstand ist ein anerkannter Rechtfertigungsgrund. Er erlaubt in engen Grenzen Eingriffe in fremde Rechtsgüter, wenn von einer Sache eine gegenwärtige Gefahr ausgeht und nur durch Beeinträchtigung dieser Sache oder der hierfür verantwortlichen Person ein höherwertiges Interesse geschützt werden kann. Im Mittelpunkt steht die Abwehr einer unmittelbar drohenden Beeinträchtigung, die gerade von der gefährdenden Sache ausgeht.
Wesen und Zielsetzung
Der Defensivnotstand dient der Gefahrenabwehr. Er ermöglicht es, die Gefahr dort zu bekämpfen, wo sie entsteht: an der Sache, von der die Gefahr ausgeht. Geschützt werden vor allem Leben, körperliche Unversehrtheit, Freiheit, Eigentum und andere bedeutende Rechtsgüter. Er greift nur, wenn die Gefahr aktuell ist und kein milderes, ebenso effektives Mittel zur Verfügung steht.
Abgrenzung zu verwandten Instituten
Der Defensivnotstand unterscheidet sich von der Notwehr, weil es nicht um die Abwehr eines rechtswidrigen menschlichen Angriffs geht, sondern um die Abwehr einer Gefahr, die typischerweise von einer Sache ausgeht. Vom sogenannten Aggressivnotstand unterscheidet er sich dadurch, dass beim Defensivnotstand die gefährliche Sache selbst beeinträchtigt wird, während beim Aggressivnotstand die Beeinträchtigung zulasten Unbeteiligter erfolgen kann, um eine Gefahr abzuwenden. Der allgemeine Notstand kann über die Sache hinausgehen; der Defensivnotstand ist auf die Abwehr an der Gefahrensache fokussiert.
Voraussetzungen des Defensivnotstands
Gegenwärtige Gefahr
Erforderlich ist eine gegenwärtige, konkrete Gefahr. Gegenwärtig ist die Gefahr, wenn sie unmittelbar droht, bereits begonnen hat oder fortdauert. Reine Befürchtungen oder entfernte Möglichkeiten reichen nicht aus. Die Gefahr muss zudem von einer Sache ausgehen, etwa von einem Tier, einem Fahrzeug, einer Maschine oder einem Bauwerk.
Gefahrzusammenhang mit der Sache
Die Beeinträchtigung muss an der Gefahrensache ansetzen. Typisch ist das Beschädigen, Zerstören, Wegschaffen oder Blockieren der Sache, um die Gefahr zu beenden. Greift die Maßnahme nicht an der Gefahrensache an, liegt regelmäßig kein Defensivnotstand vor.
Geeignetheit und Erforderlichkeit
Die gewählte Maßnahme muss geeignet sein, die Gefahr abzuwenden oder zu mindern, und sie muss erforderlich sein. Erforderlich ist sie nur, wenn kein milderes, gleich wirksames Mittel zur Verfügung steht. Erforderlichkeit bedeutet nicht, dass es das absolut schonendste Mittel sein muss, aber es darf kein erkennbar weniger eingreifender Weg mit gleicher Erfolgsaussicht offenstehen.
Interessenabwägung (Verhältnismäßigkeit im engeren Sinn)
Der zulässige Eingriff darf nicht außer Verhältnis zur drohenden Beeinträchtigung stehen. Je gewichtiger das bedrohte Rechtsgut (z. B. Leben oder Gesundheit), desto weiter reicht der Rechtfertigungsgrund. Bei geringwertigen Gefahren ist nur ein entsprechend geringfügiger Eingriff gerechtfertigt. Diese Abwägung erfolgt im Einzelfall.
Subjektives Element
Der Handelnde muss die Gefahr erkennen und in Abwehrabsicht handeln. Reine Eigennützigkeit oder Schädigungsabsicht tragen den Rechtfertigungsgrund nicht.
Rechtsfolgen
Rechtfertigende Wirkung
Sind die Voraussetzungen erfüllt, ist der Eingriff rechtmäßig. Straf- und ordnungsrechtliche Vorwürfe wegen der Beeinträchtigung der Sache scheiden aus, weil die Handlung nicht rechtswidrig ist.
Zivilrechtliche Folgen
Wer im Rahmen des Defensivnotstands eine Gefahrensache beeinträchtigt, handelt rechtmäßig und haftet grundsätzlich nicht auf Schadensersatz. Eine Haftung kann jedoch entstehen, wenn die Grenze des Zulässigen überschritten wird, etwa bei fehlender Erforderlichkeit, grober Unverhältnismäßigkeit oder wenn die Gefahr nicht gegenwärtig war. Dann kommen Ansprüche des Betroffenen in Betracht.
Zurechnung zur verantwortlichen Person
Verantwortlich ist typischerweise die Person, der die Gefahrensache zugeordnet ist, etwa Eigentümer, Halter oder diejenige, die den Gefahrenzustand geschaffen hat. Der Eingriff richtet sich rechtlich gegen diese Zuordnung; das erklärt, warum deren Sache beeinträchtigt werden darf, wenn dies zur Abwehr erforderlich und verhältnismäßig ist.
Grenzen, Irrtümer und Konkurrenzfragen
Grenzen des Defensivnotstands
Der Rechtfertigungsgrund erlaubt nur so viel Eingriff, wie zur Gefahrenabwehr nötig ist. Überschreitungen machen die Handlung rechtswidrig. Besondere Schutzvorschriften, etwa zum Umgang mit Tieren oder gefährlichen Stoffen, sind in der Abwägung zu berücksichtigen und können den zulässigen Rahmen weiter begrenzen.
Irrtümer über die Gefahr
Wer eine Gefahr annimmt, die objektiv nicht besteht, kann sich nicht auf den Defensivnotstand stützen. Solche Irrtümer können die persönliche Vorwerfbarkeit beeinflussen. Die rechtliche Bewertung richtet sich danach, ob der Irrtum vermeidbar war und wie gravierend die Fehleinschätzung ausfiel.
Zusammenwirken mit anderen Rechtfertigungsgründen
Der Defensivnotstand steht neben anderen Rechtfertigungsgründen. Liegt zugleich ein menschlicher Angriff vor, kann Notwehr einschlägig sein. Geht die Gefahr nicht von der beeinträchtigten Sache aus, kommen andere Notstandskonstellationen in Betracht. Im Streitfall ist zu prüfen, welcher Rechtfertigungsgrund die Handlung trägt.
Typische Fallkonstellationen
Gefährliches Tier
Ein Tier droht Menschen zu verletzen. Die Abwehr durch Beeinträchtigung des Tieres kann zulässig sein, wenn die Gefahr gegenwärtig ist und keine mildere Maßnahme gleich wirksam ist. Tierwohlaspekte und Schonungsmöglichkeiten fließen in die Abwägung ein.
Unkontrolliertes Fahrzeug
Ein führerlos rollendes Fahrzeug gefährdet Personen. Das Beschädigen des Fahrzeugs zur Stoppsetzung kann erlaubt sein, wenn es geeignet, erforderlich und verhältnismäßig ist.
Gefährdende Gebäudeteile
Von einem Dach lösen sich Teile und stürzen herab. Das Beseitigen oder Sichern der gefährlichen Bauteile zulasten des Verantwortlichen kann gerechtfertigt sein, sofern die Voraussetzungen vorliegen.
Beweis- und Abwägungsfragen
Darlegung der Gefahrensituation
Im Konfliktfall rückt die Nachvollziehbarkeit der Gefahr, der Zeitpunkt, die Intensität sowie die Wahl milderer Mittel in den Fokus. Die Umstände sind aus der Sicht zum Eingriffszeitpunkt zu bewerten, nicht aus späterer Perspektive.
Abwägungskriterien
Wesentliche Kriterien sind die Bedeutung des bedrohten Rechtsguts, die Nähe, Intensität und Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts, die Effektivität alternativer Maßnahmen und die Schwere des Eingriffs in die Gefahrensache.
Häufig gestellte Fragen zum Defensivnotstand
Worin unterscheidet sich der Defensivnotstand von der Notwehr?
Die Notwehr richtet sich gegen einen rechtswidrigen menschlichen Angriff. Der Defensivnotstand richtet sich gegen eine Gefahr, die von einer Sache ausgeht. Beim Defensivnotstand spielt eine ausdrückliche Verhältnismäßigkeitsprüfung eine größere Rolle; die Abwehr darf die gefährdete Sache nicht übermäßig beeinträchtigen.
Darf beim Defensivnotstand fremdes Eigentum beschädigt werden?
Ja, wenn die Gefahr von dieser Sache ausgeht und die Beeinträchtigung zur Abwehr geeignet, erforderlich und verhältnismäßig ist. Ohne gegenwärtige Gefahr oder bei vorhandenen gleich wirksamen, milderen Mitteln ist eine Beschädigung nicht gedeckt.
Erfasst der Defensivnotstand auch Tiere?
Ja. Tiere können eine Gefahr darstellen, etwa durch unmittelbar drohende Angriffe. Eingriffe sind nur im Rahmen strenger Erforderlichkeits- und Verhältnismäßigkeitsmaßstäbe zulässig. Tierschutzaspekte sind in die Abwägung einzustellen.
Wer trägt das Risiko einer Fehleinschätzung der Gefahr?
Wer die Maßnahme ergreift, trägt das Risiko, die Voraussetzungen falsch einzuschätzen. Liegt keine gegenwärtige Gefahr vor oder war der Eingriff unverhältnismäßig, ist der Rechtfertigungsgrund nicht anwendbar, was zu Rechtsfolgen führen kann.
Gilt der Defensivnotstand auch zum Schutz von Vermögen?
Ja, auch Vermögensinteressen können Schutzobjekte sein. Je geringer allerdings das bedrohte Interesse, desto enger sind die Grenzen des zulässigen Eingriffs in die Gefahrensache.
Können auch unbeteiligte Dritte handeln?
Der Defensivnotstand steht nicht nur der bedrohten Person zu. Auch Dritte dürfen handeln, wenn die Voraussetzungen erfüllt sind, insbesondere wenn sie an der Gefahrensache ansetzen und verhältnismäßig vorgehen.
Wie wird die Verhältnismäßigkeit beurteilt?
Maßgeblich ist eine Gesamtbetrachtung: Gewicht des bedrohten Rechtsguts, Nähe und Intensität der Gefahr, Erfolgsaussichten der Maßnahme sowie die Schwere des Eingriffs in die Gefahrensache. Die Bewertung erfolgt aus ex-ante-Sicht zum Zeitpunkt der Entscheidung.