Definition und Kerngedanke
„Da mihi factum, dabo tibi ius“ bedeutet übersetzt: „Gib mir den Sachverhalt, ich gebe dir das Recht.“ Der Satz drückt den Grundsatz aus, dass die Parteien eines Verfahrens die Tatsachen vortragen und belegen, während das Gericht die rechtliche Bewertung übernimmt. Damit wird die Zuständigkeit für Fakten und für Recht klar getrennt: Die Beteiligten schildern, was geschehen ist, das Gericht bestimmt, welche rechtlichen Folgen sich daraus ergeben.
Eng verwandt ist die Formel mit dem Grundgedanken, dass das Gericht das Recht kennt und anwendet. Sie steht zugleich für die Idee, dass eine rechtliche Entscheidung auf dem von den Parteien gelieferten Tatsachenfundament ruht.
Historischer Hintergrund und Entwicklung
Die Wendung stammt aus der lateinischen Rechtstradition. Sie wurde im kontinentaleuropäischen Rechtskreis übernommen und hat sich als Leitgedanke für die Aufgabenverteilung zwischen Parteien und Gericht herausgebildet. In vielen rechtsstaatlichen Verfahren bildet sie bis heute eine wichtige Orientierung dafür, wie Sachverhaltsermittlung, Beweisführung und Rechtsanwendung zusammenspielen.
Systematische Einordnung und Abgrenzungen
Verhältnis zu „iura novit curia“
„Da mihi factum, dabo tibi ius“ und der Gedanke „Das Gericht kennt das Recht“ beschreiben zwei Seiten desselben Prinzips. Während ersteres die Bringschuld der Parteien für den Sachverhalt betont, unterstreicht letzteres die Pflicht des Gerichts, das anwendbare Recht eigenständig zu finden und zu würdigen. Das Gericht ist nicht an die rechtliche Einordnung der Parteien gebunden, wohl aber an den prozessual relevanten Tatsachenvortrag und den Streitgegenstand.
Tatsachen, Beweis und Rechtsanwendung
Zu unterscheiden sind:
- Tatsachen: konkrete Umstände und Ereignisse, auf die sich der Anspruch oder die Verteidigung stützen.
- Beweise: Mittel zur Überzeugungsbildung des Gerichts über das Vorliegen der behaupteten Tatsachen.
- Rechtsanwendung: Subsumtion der festgestellten Tatsachen unter die einschlägigen rechtlichen Regeln.
Die Maxime ordnet diese Elemente zu: Tatsachen und Beweise werden maßgeblich von den Parteien beigebracht, das Gericht führt die rechtliche Würdigung durch.
Parteimaxime, Beibringungsgrundsatz und Amtsermittlung
In vielen zivilrechtlich geprägten Verfahren gilt der Beibringungsgrundsatz: Die Parteien bestimmen durch ihren Vortrag den Streitstoff. Demgegenüber kennen andere Verfahrensarten, insbesondere mit öffentlich-rechtlichem Schwerpunkt, eine verstärkte Amtsermittlung: Dort wirkt das Gericht aktiver bei der Sachverhaltserforschung mit. Unabhängig von der Ausprägung der Sachverhaltsaufklärung bleibt der Kern des Grundsatzes gleich: Die rechtliche Subsumtion ist Aufgabe des Gerichts.
Praktische Bedeutung im Verfahren
Aufgabenverteilung im Überblick
Rolle der Parteien
Die Parteien tragen die für ihre Anträge maßgeblichen Tatsachen vor und bieten Beweise an. Der von ihnen bestimmte Streitgegenstand bildet den Rahmen der Entscheidung. Ohne entsprechenden Tatsachenvortrag können rechtliche Ansprüche oder Einwendungen nicht berücksichtigt werden.
Rolle des Gerichts
Das Gericht ermittelt, welches Recht auf die festgestellten Tatsachen anzuwenden ist. Es ist nicht an die von den Parteien genannten Rechtsgrundlagen gebunden. Neue rechtliche Gesichtspunkte sind möglich, soweit sie sich im Rahmen des Streitgegenstands bewegen und der Anspruch auf rechtliches Gehör gewahrt bleibt. Überraschende Entscheidungen ohne vorherige Gelegenheit zur Stellungnahme sind zu vermeiden.
Grenzen und Schranken
- Bindung an den Streitgegenstand: Das Gericht entscheidet innerhalb der Anträge und des durch die Parteien abgesteckten Rahmens.
- Keine Ersetzung fehlender Tatsachen: Das Gericht darf fehlende oder unbewiesene Tatsachen nicht durch eigene Annahmen ersetzen.
- Rechtliches Gehör: Neue rechtliche Bewertungen erfordern Gelegenheit der Parteien, sich dazu zu äußern.
Bedeutung für Rechtsmittel
In Rechtsmittelverfahren ist die rechtliche Neubewertung verbreitet zulässig, während neue Tatsachen je nach Verfahrensart und Instanz häufig eingeschränkt sind. Der Leitsatz bleibt maßgeblich: Festgestellte Tatsachen bilden die Grundlage; die rechtliche Subsumtion kann überprüft und neu bewertet werden.
Anwendungsfelder in unterschiedlichen Verfahrensarten
Zivilverfahren
Das Zivilverfahren ist besonders vom Beibringungsgrundsatz geprägt. Die Parteien tragen Tatsachen vor und bieten Beweise an; das Gericht subsumiert und wendet das Recht an. Eine andere rechtliche Qualifikation als die der Parteien ist zulässig, muss jedoch innerhalb des Streitgegenstands bleiben und erfordert Gelegenheit zur Stellungnahme.
Verwaltungs- und Sozialverfahren
Hier tritt vielfach die Amtsermittlung stärker hervor. Das Gericht wirkt an der Sachverhaltsaufklärung mit. Gleichwohl bleibt die Trennung erhalten: Aus den ermittelten und vorgetragenen Tatsachen leitet das Gericht die Rechtsfolgen ab.
Strafverfahren
Im Strafverfahren gilt die Offizialmaxime. Der Sachverhalt wird umfassend von staatlichen Stellen und dem Gericht aufgeklärt. Unabhängig davon obliegt es dem Gericht, aus den festgestellten Tatsachen die rechtlichen Konsequenzen zu ziehen. Die Formel verweist hier weniger auf die Bringschuld der Parteien, sondern auf die Unabhängigkeit der rechtlichen Würdigung durch das Gericht.
Typische Missverständnisse
- Missverständnis: „Das Gericht nutzt nur die von den Parteien genannten Gesetze.“ – Korrekt ist: Das Gericht wendet das einschlägige Recht eigenständig an.
- Missverständnis: „Fehlende Tatsachen kann das Gericht ersetzen.“ – Korrekt ist: Ohne tragfähigen Tatsachenvortrag und Beweis fehlt die Grundlage für die Rechtsanwendung.
- Missverständnis: „Neue rechtliche Gesichtspunkte sind unzulässig.“ – Korrekt ist: Sie sind möglich, sofern der Streitgegenstand gewahrt und rechtliches Gehör gewährt wird.
Zusammenfassung
„Da mihi factum, dabo tibi ius“ ordnet die Kernaufgaben im Verfahren: Tatsachen kommen von den Parteien, das Recht vom Gericht. Der Grundsatz sichert eine klare Trennung zwischen Sachverhaltsdarstellung, Beweis und rechtlicher Subsumtion, schützt die Entscheidungsfindung vor Überraschungen und gewährleistet, dass die rechtliche Bewertung unabhängig von der rechtlichen Argumentation der Beteiligten erfolgen kann, ohne den Streitgegenstand zu überschreiten.
Häufig gestellte Fragen
Was bedeutet „Da mihi factum, dabo tibi ius“ in einfachen Worten?
Die Parteien schildern, was passiert ist, das Gericht entscheidet, welche rechtlichen Folgen daraus entstehen. Fakten kommen von den Beteiligten, das Recht vom Gericht.
Darf das Gericht eine andere Rechtsgrundlage anwenden als von den Parteien genannt?
Ja. Das Gericht ist an den Sachverhalt und den Streitgegenstand gebunden, nicht an die von den Parteien gewählte Rechtsgrundlage. Neue rechtliche Gesichtspunkte erfordern Gelegenheit zur Stellungnahme.
Gilt der Grundsatz in allen Verfahrensarten gleichermaßen?
Der Kerngedanke gilt überall: Das Gericht wendet das Recht an. Die Ausgestaltung der Sachverhaltsaufklärung variiert jedoch. In zivilrechtlich geprägten Verfahren tragen die Parteien die Hauptverantwortung für den Tatsachenvortrag; in anderen Verfahren wirkt das Gericht stärker an der Ermittlung mit.
Kann das Gericht fehlende Tatsachen ergänzen oder ersetzen?
Nein. Das Gericht entscheidet auf Grundlage des vorgetragenen und festgestellten Sachverhalts. Fehlen tragfähige Tatsachen oder Beweise, kann keine entsprechende Rechtsfolge hergeleitet werden.
Wie verhält sich der Grundsatz zum Verbot von Überraschungsentscheidungen?
Neue rechtliche Würdigungen sind zulässig, doch müssen die Beteiligten die Möglichkeit erhalten, sich zu neuen rechtlichen Gesichtspunkten zu äußern. Dadurch werden Überraschungsentscheidungen vermieden.
Welche Rolle spielen Rechtsmittel bei der Anwendung des Grundsatzes?
Rechtsmittelinstanzen prüfen häufig die rechtliche Bewertung neu, während neue Tatsachen vielfach nur eingeschränkt berücksichtigt werden. Damit bleibt die Trennung zwischen Tatsachenfundament und Rechtsanwendung erhalten.
Ersetzt die Formel die Pflicht zum substantiierten Vortrag?
Nein. Der Grundsatz setzt einen schlüssigen und hinreichend konkreten Tatsachenvortrag voraus. Erst auf dieser Grundlage kann das Gericht das Recht anwenden.