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da mihi factum, dabo tibi ius


Ursprung und Definition des Rechtsgrundsatzes „da mihi factum, dabo tibi ius“

Der lateinische Begriff „da mihi factum, dabo tibi ius“ lässt sich mit „Gib mir den Sachverhalt, ich gebe dir das Recht“ übersetzen. Dieser fundamentale Leitsatz stammt aus der römischen Rechtstradition und beschreibt das Prinzip, dass das Gericht (oder die entscheidende Instanz) auf Basis der vom Kläger vorgetragenen Tatsachen die entsprechende rechtliche Würdigung vornimmt. Der Spruch betont damit die Trennung zwischen tatsächlicher Sachverhaltsermittlung und rechtlicher Subsumtion im Prozess.

Historischer Hintergrund

Ursprung im römischen Zivilprozess

Der Grundsatz nimmt seinen Ursprung im klassischen römischen Zivilprozess, insbesondere im sogenannten zweigeteilten Prozessverfahren („ordo iudiciorum privatorum“). Die Parteien mussten dabei der (Prätor-)Gerichtsbarkeit die zugrundeliegenden Tatsachen vortragen. Die richterliche Instanz hatte daraufhin die Aufgabe, das geltende Recht auf die dargelegten Tatsachen anzuwenden und so zu einem Urteil zu gelangen.

Einfluss auf späteres europäisches Prozessrecht

Das Prinzip „da mihi factum, dabo tibi ius“ prägte weit über die Antike hinaus das kontinentaleuropäische Prozessrecht, namentlich das kanonische Prozessrecht und das Recht der ius commune-Epoche. Seine Spuren finden sich bis heute in den Prozessordnungen vieler europäischer Länder wieder, insbesondere im deutschen, französischen und italienischen Zivilprozessrecht.

Grundsätzliche Bedeutung im Zivilprozessrecht

Aufgabenverteilung zwischen Parteien und Gericht

Dem Grundsatz zufolge ist es Aufgabe der Parteien, die relevanten Tatsachen vorzutragen und zu beweisen. Das Gericht hingegen hat die rechtliche Einordnung (Subsumtion) und Anwendung des Gesetzes vorzunehmen. Es darf seine Entscheidung nur auf die Tatsachen stützen, die von den Parteien vorgetragen und gegebenenfalls bewiesen wurden (sog. Beibringungsgrundsatz).

Beispiel:
Bringt eine Partei vor, einen bestimmten Vertrag abgeschlossen zu haben, prüft das Gericht, ob sich aus dem geschilderten Sachverhalt Rechtsfolgen ergeben, also ob und welcher Anspruch aus dem Vertragsverhältnis besteht. Die Parteien selbst müssen indes keine konkreten Rechtsnormen benennen; es genügt, wenn der zugrunde liegende Lebenssachverhalt schlüssig dargelegt wird.

Abgrenzung zum rechercheprinzip (Amasseprinzip)

Im Gegensatz zum Untersuchungs- oder Amtsermittlungsgrundsatz (z.B. im Sozialverwaltungsverfahren oder Strafprozess) ist im Zivilprozess die Initiative der Parteien maßgeblich. Das Gericht ist an die von den Parteien dargelegten Tatsachen gebunden; es ist also nicht verpflichtet, von Amts wegen nach weiteren Tatsachen zu forschen.

Auswirkungen im deutschen Recht

Zivilprozessordnung (ZPO) und Subsumtionsprinzip

Die Bedeutung des Grundsatzes „da mihi factum, dabo tibi ius“ findet sich in verschiedenen Vorschriften der deutschen Zivilprozessordnung wieder. Insbesondere § 308 Abs. 1 ZPO verpflichtet das Gericht, das Urteil nach Recht und Gesetz zu fällen, ohne an den von den Parteien gestellten rechtlichen Anträgen gebunden zu sein. Ebenso legt § 286 ZPO (freie Beweiswürdigung) die Rolle der rechtlichen Würdigung klar in die Hand der entscheidenden Instanz.

Kein Präklusionsanspruch bei Rechtsanwendungsfehlern

Der Richter muss demnach aus dem vorgetragenen und bewiesenen Sachverhalt die richtigen rechtlichen Schlüsse ziehen. Es ist nicht erforderlich, dass die klagende Partei den zutreffenden rechtlichen Obersatz selbst benennt. Dabei darf das Gericht auch auf rechtliche Gesichtspunkte abstellen, die seitens der Parteien nicht ausdrücklich geltend gemacht wurden, soweit sie sich auf die erhobenen Tatsachenbehauptungen stützen lassen.

Bedeutung für das Berufungsverfahren

Im Berufungsverfahren kommt diesem Grundsatz eine besondere Rolle zu, da das Berufungsgericht grundsätzlich ebenfalls nur auf den festgestellten Sachverhalt abstellen darf. Neue rechtliche Gesichtspunkte können aber auch in der Berufungsinstanz erstmalig angewandt werden, sofern sie sich auf einen bereits festgestellten oder unstreitigen Sachverhalt beziehen.

Anwendung in anderen Rechtsgebieten

Verwaltungsrecht

Auch im Verwaltungsrecht gilt der Grundsatz, dass die Parteien Tatsachen vortragen, während die Verwaltung oder das Verwaltungsgericht das Recht anzuwenden hat. Im sozialrechtlichen Prozessrecht jedoch besteht ein Untersuchungsgrundsatz, wodurch das Amt auch selbständig Sachverhalte ermitteln kann – hier ist das Prinzip „da mihi factum, dabo tibi ius“ insoweit eingeschränkt.

Strafrecht

Im Strafrecht bildet – trotz grundsätzlich geltendem Amtsermittlungsgrundsatz – die Trennung zwischen Tatsachenfeststellung und rechtlicher Beurteilung einen Kern der Urteilsfindung.

Kritik und Weiterentwicklung

Begrenzungen

Der Grundsatz ist nicht uneingeschränkt anwendbar. Bei Beweislastfragen und im Rahmen richterlicher Hinweispflichten wird der Grundsatz modifiziert, etwa wenn das Gericht auf offensichtliche rechtliche Gesichtspunkte hinweisen muss. Das Ziel einer möglichst materiell gerechten Entscheidung kann zu einer Aufweichung des strikten Beibringungsgrundsatzes führen.

Bedeutung im internationalen Vergleich

Während das „da mihi factum, dabo tibi ius“-Prinzip im kontinentaleuropäischen Zivilprozessrecht prägend ist, gibt es im angelsächsischen Rechtskreis (Common Law) Unterschiede. Dort wird das Verhältnis zwischen Richterrolle und Parteivortrag anderweitig ausgestaltet; gleichwohl bleibt die rechtliche Anwendung basierend auf festgestelltem Sachverhalt ein zentraler Bestandteil richterlicher Tätigkeit.

Zusammenfassung

Der Rechtsgrundsatz „da mihi factum, dabo tibi ius“ ist ein tragendes Fundament im Zivilprozessrecht und anderen Rechtsgebieten der kontinentalen Rechtstradition. Er definiert die Aufgabenverteilung zwischen den Parteien, die für den Sachverhalt und dessen Nachweis verantwortlich sind, sowie dem Gericht, das für die rechtliche Würdigung zuständig ist. Trotz einzelner Einschränkungen und Weiterentwicklungen hat das Prinzip bis heute grundlegende Bedeutung für das Verfahren der Rechtsprechung in Deutschland und weiten Teilen Europas.

Häufig gestellte Fragen

Wie wird das Prinzip „da mihi factum, dabo tibi ius“ in der gerichtlichen Praxis angewandt?

In der gerichtlichen Praxis besagt das Prinzip „da mihi factum, dabo tibi ius“, dass es Aufgabe der Parteien – insbesondere von Klägern und Beklagten – ist, die maßgeblichen tatsächlichen Umstände (den Sachverhalt) vorzutragen und gegebenenfalls zu beweisen. Das Gericht hingegen wendet das einschlägige Recht auf den so ermittelten und bewiesenen Sachverhalt an. Der Richter ist also an den vorgetragenen Tatsachenstoff gebunden und darf keine eigenen Ermittlungen hinsichtlich unbekannter Tatsachen anstellen. Er ist jedoch verpflichtet, das materielle Recht von Amts wegen und unabhängig von den Rechtsausführungen der Parteien richtig anzuwenden (iura novit curia). Insbesondere in Zivilprozessen bedeutet dies, dass die Parteien die Tatsachenlast tragen, während das Gericht rechtlich autonom entscheidet.

Welche Rolle spielt das Prinzip im deutschen Zivilprozessrecht?

Im deutschen Zivilprozessrecht ist das Prinzip ein grundlegendes Strukturmerkmal. Es manifestiert sich insbesondere im sogenannten Beibringungsgrundsatz (§§ 138 ff. ZPO), wonach die Parteien für die Darlegung und den Nachweis der sie begünstigenden Tatsachen verantwortlich sind. Das Gericht hat die Aufgabe, auf der Grundlage des Parteivorbringens sowie etwaiger Beweisergebnisse das Recht selbstständig zu subsumieren und anzuwenden. Die Parteien müssen also nicht explizit die passende Norm benennen oder juristisch argumentieren – dies obliegt dem Gericht. Fehlerhafte, unzutreffende oder fehlende Rechtsausführungen der Parteien sind für die Entscheidung unerheblich, da das Gericht selbständig das gesamte relevante materielle Recht prüft.

Gibt es Ausnahmen vom Prinzip „da mihi factum, dabo tibi ius“?

Ja, es existieren Ausnahmen. Im deutschen Prozessrecht können beispielsweise bestimmte Tatsachen von Amts wegen zu ermitteln sein, insbesondere im familien- oder arbeitsgerichtlichen Verfahren („Amtsermittlungsgrundsatz“ oder „Untersuchungsgrundsatz“). Hier trägt das Gericht eine aktivere Rolle bei der Tatsachenermittlung und ist nicht ausschließlich an den Parteivortrag gebunden. Auch in Fällen, in denen zwingende Rechtsnormen (z.B. im öffentlichen Recht oder Strafrecht) gelten, kann das Gericht verpflichtet sein, selbständig Erkundigungen einzuziehen oder rechtliche Bewertungen vorzunehmen, die über das Parteivorbringen hinausgehen. Außerdem gibt es prozessuale Beschränkungen, etwa im Strafprozess, wenn das Gericht an das Anklageprinzip gebunden ist.

Wie beeinflusst das Prinzip die Beweislast im Zivilverfahren?

Das Prinzip legt fest, dass die Beweislast für eine Tatsache grundsätzlich bei der Partei liegt, die aus dieser Tatsache Rechte herleiten möchte. Dies bedeutet, dass derjenige, der etwa Schadensersatz verlangt, sowohl den Schadensfall als auch die haftungsbegründenden Umstände darzulegen und zu beweisen hat. Schafft er dies nicht, geht dies zu seinen Lasten. Durch das Prinzip wird die Verantwortung für die Tatsachen- und Beweisführung klar den Parteien zugewiesen, während das Gericht für die rechtliche Subsumtion zuständig ist.

Hat das Prinzip Auswirkungen auf das Berufungsverfahren?

Im Berufungsverfahren bleibt die Trennung von Tatsachenfeststellung und Rechtsanwendung erhalten. Allerdings übernimmt das Berufungsgericht meist die vom Erstgericht festgestellten Tatsachen und prüft vorrangig, ob das Recht korrekt angewandt wurde. Neue Tatsachen können im Regelfall nur beschränkt vorgebracht werden, abhängig vom jeweiligen Verfahrensstadium und der konkreten Prozessordnung (§ 531 ZPO). Das Prinzip „da mihi factum, dabo tibi ius“ bleibt jedoch Leitlinie, da das Berufungsgericht ebenfalls das Recht von Amts wegen unabhängig vom Parteivortrag anwenden muss.

Welche Bedeutung hat das Prinzip im internationalen Rechtsvergleich?

International betrachtet findet sich das Prinzip oder dessen Grundidee in vielen kontinentaleuropäischen Rechtsordnungen auf Grundlage des römisch-rechtlichen Ursprungs wieder. Es bestimmt häufig die Aufgabenverteilung zwischen Parteien und Gericht und kennzeichnet damit adversatorisch ausgestaltete Prozesssysteme. In common law-Systemen bestehen hingegen abweichende Grundsätze: Dort sind die Gerichte mehr an die rechtlichen Argumente der Parteien gebunden; sie dürfen das Recht nicht vollständig eigenständig anwenden, wenn es die Parteien nicht vortragen. Das kontinentale Prinzip „da mihi factum, dabo tibi ius“ bringt somit eine spezifische prozessrechtliche und zugleich rechtspolitische Kultur zum Ausdruck.

Wie verhält sich das Prinzip zum Amtsermittlungsgrundsatz („Untersuchungsmaxime“)?

Während das Prinzip „da mihi factum, dabo tibi ius“ für die Parteien die Verantwortung für die Sachverhaltsermittlung vorsieht, durchbricht der Amtsermittlungsgrundsatz diese Zuordnung. Besonders im Familien-, Arbeits- oder Verwaltungsprozess hat das Gericht die Pflicht, den Sachverhalt von sich aus (also unabhängig vom Parteivortrag) vollständig und richtig zu erforschen. In diesen Verfahren gilt das römische Prinzip nur eingeschränkt oder gar nicht, da die Wahrheitsermittlung Vorrang vor der Parteieninitiative hat. In Mischformen, wie dem sozialrechtlichen Verfahren, existieren gestufte Verhältnisse, in denen das Prinzip unterschiedlich ausgeprägt zur Anwendung kommt.