Legal Wiki

Wiki»Legal Lexikon»Zivilrecht»Corona-Krise und Zivilprozess

Corona-Krise und Zivilprozess

Corona-Krise und Zivilprozess: Begriff und Ausgangslage

Die Corona-Krise bezeichnet die gesamtgesellschaftlichen und wirtschaftlichen Auswirkungen der COVID‑19‑Pandemie ab 2020. Der Zivilprozess ist das gerichtliche Verfahren zur Klärung privatrechtlicher Streitigkeiten zwischen natürlichen oder juristischen Personen. Die Pandemie traf die Zivilgerichtsbarkeit in ihrem Kernbereich: mündliche Verhandlungen, Beweisaufnahmen und Fristenverwaltung mussten unter Gesundheits- und Kontaktbeschränkungen fortgeführt werden. Daraus ergaben sich organisatorische, verfahrensrechtliche und technische Anpassungen, die das Spannungsfeld zwischen Gesundheitsschutz, Verfahrensfairness, Öffentlichkeit und Verfahrensökonomie neu austarierten.

Organisation der Gerichte während der Pandemie

Aufrechterhaltung des Justizbetriebs

Die Zivilgerichte hielten den Betrieb grundsätzlich aufrecht, reduzierten jedoch Terminfrequenzen, passten Ladungen an und priorisierten eilbedürftige Verfahren. Verhandlungssäle wurden umgestaltet, Abstände markiert und Personenzahl begrenzt. Terminverlegungen erfolgten häufiger, wenn Beteiligte pandemiebedingt an einer Teilnahme gehindert waren.

Hygienekonzepte und Öffentlichkeit der Verhandlung

Gerichte verbanden Zugangskontrollen, Maskenpflicht und Lüftungskonzepte mit dem Grundsatz der Öffentlichkeit von Verhandlungen. Die Öffentlichkeit wurde typischerweise durch eine begrenzte Anzahl von Zuschauerplätzen oder Ausweichräume mit Bild- und Tonübertragung gewahrt. Vollständige Ausschlüsse der Öffentlichkeit blieben die Ausnahme und bedurften einer besonderen Begründung.

Digitalisierungsschub

Die Pandemie beschleunigte die Einführung elektronischer Akten, die Nutzung sicherer Videotechnik und den elektronischen Rechtsverkehr. Identitätssicherung und Vertraulichkeit rückten in den Vordergrund. Technische Ausfälle, Bandbreitenprobleme und Raumakustik wurden zu praktischen Faktoren des Verfahrensablaufs.

Verfahrensrechtliche Anpassungen und Instrumente

Mündliche Verhandlung, Videoverhandlung und schriftliches Verfahren

Die mündliche Verhandlung blieb der Regelfall, wurde jedoch häufiger als Videoverhandlung durchgeführt. Die Teilnahme per Bild und Ton ermöglichte die Zuschaltung von Parteien, Bevollmächtigten, Zeugen und Sachverständigen. Zusätzlich gewann das schriftliche Verfahren an Bedeutung, wenn sich der Sachverhalt anhand von Schriftsätzen und Urkunden klären ließ. Die Wahl des Formats folgte der Abwägung zwischen Aufklärungsbedürfnis, Verfahrensfairness und Infektionsschutz.

Fristen, Termine und Säumnis

Gerichte setzten oder verlängerten Fristen nach pflichtgemäßem Ermessen, wenn pandemiebedingte Hindernisse vorlagen. Erkrankungen, Quarantäne, eingeschränkte Kinderbetreuung oder eingeschränkter Kanzleibetrieb konnten eine Rolle spielen. Bei Versäumung von Fristen kamen verfahrensrechtliche Korrekturmechanismen in Betracht, deren Anwendung an strenge Voraussetzungen geknüpft ist. Säumnisentscheidungen blieben möglich, wurden aber mit Blick auf Zustellung, Erreichbarkeit und objektive Hinderungsgründe geprüft.

Beweisaufnahme unter Kontaktbeschränkungen

Zeugen und Sachverständige wurden verstärkt per Videotechnik vernommen. Ortsbesichtigungen wurden verschoben oder unter besonderen Schutzauflagen durchgeführt. Schriftliche Gutachten und Urkundenbeweis gewannen an Gewicht. Die Gerichte achteten darauf, die Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme und das Fragerecht der Beteiligten auch im virtuellen Raum zu sichern.

Zustellung und elektronischer Rechtsverkehr

Die Zustellung von Schriftstücken war mancherorts verzögert, insbesondere bei internationalem Bezug. Der elektronische Rechtsverkehr gewann an Bedeutung, da er zeitnahe Übermittlung und Nachweisbarkeit auch bei reduzierter Post- und Botenlogistik ermöglicht. Elektronische Einreichungen und Zustellungen folgten festgelegten Formatanforderungen und Sicherheitsstandards.

Kosten und Kostenerstattung

Gerichts- und Anwaltsgebühren blieben von der Pandemie als solcher grundsätzlich unberührt. Reise- und Abwesenheitszeiten reduzierten sich bei Videoverhandlungen; damit veränderten sich typischerweise die erstattungsfähigen Auslagen. Zusätzliche Aufwendungen für Technik oder Hygienemaßnahmen wurden je nach Einzelfall und Verfahrensausgang kostenrechtlich eingeordnet.

Zwangsvollstreckung und vorläufiger Rechtsschutz

Praktische Einschränkungen der Vollstreckung

In der Zwangsvollstreckung kam es zu Verzögerungen, etwa bei Wohnungsräumungen oder körpernahen Maßnahmen. Gerichtsvollzieher passten Abläufe an, führten Termine mit Schutzvorkehrungen durch oder vertagten sie. Der Zugang zu betrieblichen Räumen unterlag häufig zusätzlichen Abstimmungen.

Abwägung zwischen Gesundheitsschutz und Gläubigerinteressen

Gerichte nahmen bei der Entscheidung über Vollstreckungsmaßnahmen eine Abwägung vor: Schutz von Gesundheit und Leben einerseits, Durchsetzung titulierten Rechts andererseits. Dies konnte zu befristeten Einschränkungen, abgestuften Maßnahmen oder zu Auflagen für die Durchführung führen.

Eilrechtsschutz in Pandemielagen

Der einstweilige Rechtsschutz wurde genutzt, um Ansprüche zu sichern oder irreversible Nachteile zu verhindern. Zeitdruck, eingeschränkte Verfügbarkeit von Beteiligten und wechselnde Rahmenbedingungen prägten die Glaubhaftmachung und die Terminsgestaltung.

Materiellrechtliche Streitfelder im Prozesskontext

Höhere Gewalt, Störung der Geschäftsgrundlage und ihre prozessuale Relevanz

Viele Klagen betrafen Leistungshindernisse und Anpassungsbegehren: Lieferkettenstörungen, Veranstaltungsabsagen oder Betriebsschließungen. Im Prozess wurden Konzepte wie höhere Gewalt oder gravierende Veränderung der Geschäftsgrundlage als Einwendungen oder Gestaltungsvorbringen aufgegriffen. Die Tatsachenfeststellung zu Ursachen, Dauer und Zumutbarkeit war dabei zentral.

Massenschäden und Sammelverfahren

Gleichgelagerte Sachverhalte führten zu einer Häufung ähnlicher Klagen, etwa im Reise-, Event- und Mietbereich. Zur Strukturierung boten sich Bündelungen, Pilotverfahren oder kollektive Instrumente an, die Klärung von Grundsatzfragen und einheitliche Lösungen erleichterten.

Verbraucherverträge, Reisen und Veranstaltungen

Streitpunkte betrafen Rückabwicklungen, Gutscheine, Umbuchungen und Preisanpassungen. Im Zivilprozess stand die Prüfung vertraglicher Risikoverteilung, Informations- und Mitteilungspflichten sowie die Zumutbarkeit von Alternativen im Vordergrund.

Internationaler Zivilprozess

Grenzüberschreitende Zustellung und Beweisaufnahme

Reisebeschränkungen und Behördenzeiten wirkten sich auf Auslandszustellungen und die internationale Beweisaufnahme aus. Videotechnik erleichterte konsularfreie Zeugeneinvernahmen und die Zuschaltung ausländischer Sachverständiger, erforderte jedoch Koordination zwischen Gerichten verschiedener Staaten.

Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Entscheidungen

Die Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Titel blieb möglich, verzögerte sich aber durch eingeschränkten Betrieb zuständiger Stellen. Formvorschriften, Übersetzungen und die Verfügbarkeit beglaubigter Unterlagen gewannen an zeitlicher Relevanz.

Dauerhafte Lehren und Ausblick

Resilienz der Zivilgerichtsbarkeit

Die Zivilgerichtsbarkeit erwies sich als anpassungsfähig. Flexiblere Terminsgestaltung, erweiterte Nutzung des schriftlichen Verfahrens und gestärkte Verfahrensleitung trugen zur Aufrechterhaltung der Rechtspflege bei.

Technik, Transparenz und Zugang zum Recht

Videoverhandlungen und elektronische Akten werden die Praxis langfristig prägen. Künftig stehen die Sicherung der Verfahrensqualität, Barrierearmut, technische Standardisierung und die Balance zwischen Öffentlichkeit, Datenschutz und Verfahrenseffizienz im Mittelpunkt.

Häufig gestellte Fragen

Wie wurde die Öffentlichkeit von Zivilverhandlungen während der Pandemie gewährleistet?

Die Gerichte reduzierten die Zahl der anwesenden Personen und nutzten größere Säle oder Ausweichräume mit Bild- und Tonübertragung. So blieb die Öffentlichkeit grundsätzlich gewahrt, während Abstands- und Hygieneregeln eingehalten wurden.

Können Zivilverhandlungen per Video stattfinden und ist das rechtlich gleichwertig?

Videoverhandlungen wurden vermehrt eingesetzt. Sie sind dem Präsenztermin rechtlich grundsätzlich gleichgestellt, sofern Identität, Ton- und Bildqualität sowie die Teilnahme- und Fragerechte aller Beteiligten gesichert sind.

Welche Auswirkungen hatten Quarantäne oder Krankheit auf Prozessfristen?

Pandemiebedingte Hinderungsgründe konnten zur Fristverlängerung führen oder unter engen Voraussetzungen eine nachträgliche Fristwiederherstellung ermöglichen. Maßgeblich waren Darlegung, Glaubhaftmachung und die Umstände des Einzelfalls.

Gab es Einschränkungen bei Zwangsvollstreckungen?

Ja, es kam zu Verzögerungen und organisatorischen Anpassungen, insbesondere bei körpernahen Maßnahmen. Gerichte und Vollstreckungsorgane nahmen Abwägungen zwischen Gesundheitsschutz und dem Interesse an der Durchsetzung rechtskräftiger Titel vor.

Wie wurde die Beweisaufnahme unter Kontaktbeschränkungen durchgeführt?

Zeugen und Sachverständige wurden häufig per Video befragt. Schriftliche Gutachten und Urkundenbeweis traten stärker in den Vordergrund. Bei Ortsbesichtigungen galten besondere Schutzauflagen oder sie wurden verschoben.

Welche Folgen hatte die Pandemie für grenzüberschreitende Zivilverfahren?

Auslandszustellungen und internationale Beweisaufnahmen verzögerten sich. Videotechnik half, Zeugen und Sachverständige aus dem Ausland zuzuschalten, erforderte jedoch enge Koordination und Beachtung der formellen Anforderungen.

Haben sich die Kosten von Zivilprozessen verändert?

Gebühren blieben im Wesentlichen unverändert. Reiseaufwand sank bei Videoverhandlungen; dadurch konnten sich erstattungsfähige Auslagen verändern. Zusätzliche Technik- oder Hygienekosten wurden je nach Verfahrensausgang und Erforderlichkeit eingeordnet.