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communis opinio


Begriff und Bedeutung der „communis opinio“ im Recht

Die communis opinio (lateinisch für „allgemeine Meinung“ oder „herrschende Meinung“) ist ein zentraler Terminus der Rechtswissenschaften. Er beschreibt die im Schrifttum vorherrschende Auffassung oder Auslegung zu einem bestimmten Rechtsproblem oder einer Rechtsfrage. Die communis opinio spielt insbesondere dort eine Rolle, wo Gesetze auslegungsbedürftig sind und keine höchstrichterliche Rechtsprechung existiert. Sie beeinflusst maßgeblich die Rechtsentwicklung sowie die Rechtsanwendung und dient häufig als Orientierungshilfe bei der Argumentation und Lösung ungeklärter Rechtsfragen.


Historische Entwicklung und Ursprung

Die communis opinio hat ihre Wurzeln im römischen Recht, insbesondere im klassischen und nachklassischen Zeitalter. Schon im antiken Rom wurde auf die Meinungsbildung angesehener Rechtsgelehrter zur Rechtsfortbildung zurückgegriffen. Die Glossen und Kompilationen des Mittelalters sowie die Rezeption des römischen Rechts in Europa stärkten die praktische Bedeutung einer sich als „allgemein anerkannt“ darstellenden Lehrmeinung. Entsprechend wurde sie im Verlauf der Rechtsgeschichte zunehmend als eigene Rechtsquelle betrachtet.


Bedeutung im modernen Rechtssystem

Stellung im System der Rechtsquellen

Im modernen Recht zählt die communis opinio nicht zu den traditionellen, formalen Rechtsquellen (Gesetz, Gewohnheitsrecht, richterliche Entscheidung). Dennoch besitzt sie faktische Bedeutung im Rahmen der Rechtsfindung. Sie wird häufig als „gewohnheitsrechtliche Lehrmeinung“ oder als „autorisierte Interpretation“ betrachtet, jedoch bleibt sie – insbesondere im deutschen Recht – dem Gesetz und der Rechtsprechung nachrangig.

Funktion in der Rechtsanwendung

  1. Auslegung von Gesetzen:

Wo der Gesetzestext unbestimmt ist oder verschiedene Interpretationen zulässt, wird herangezogen, welche Auslegung im Schrifttum maßgeblich vertreten wird und sich als communis opinio etabliert hat.

  1. Rechtsfortbildung:

Die communis opinio trägt dazu bei, Lücken im Gesetz zu schließen oder neue Auslegungen zu entwickeln. Sie stellt damit einen wichtigen Beitrag zur Fortentwicklung des Rechts dar.

  1. Argumentationshilfe:

Vor allem in Gerichtsurteilen und wissenschaftlichen Abhandlungen wird auf die communis opinio verwiesen, um die eigene Auffassung zu untermauern.


Abgrenzung zu anderen Meinungsständen

Gegensatz zur Mindermeinung (opinio dissentis)

Die communis opinio steht der Mindermeinung (opinio dissentis) gegenüber. Während die communis opinio als die „anerkannte“ Lehre gilt, bezeichnet opinio dissentis eine abweichende, nicht allgemein geteilte Auffassung. Auch die Mindermeinung kann jedoch im Einzelfall von Gerichten übernommen oder durch neue Entwicklungen zur communis opinio aufsteigen.

Verhältnis zur Rechtsprechung

Im deutschen und österreichischen Recht ist die Meinung der Rechtsprechung („herrschende Rechtsprechung“/st. Rspr.) von besonderer Bedeutung. Kommt es zu Abweichungen zwischen communis opinio und höchstrichterlicher Rechtsprechung, so ist in der Regel Letzere bindend. Die communis opinio kann jedoch Anstoß dafür geben, eine bestehende Rechtsprechung kritisch zu hinterfragen bzw. zu verändern.


Anwendung und Beispiele

Zivilrecht

Im bürgerlichen Recht wird die communis opinio häufig bei Fragen der Vertragsauslegung, der Rechtsgeschäftslehre oder der deliktischen Haftung herangezogen. Beispielhaft kann bei Unsicherheiten über den Umfang bestimmter Schadensersatzansprüche die communis opinio entscheidend sein.

Öffentliches Recht

Auch im Verwaltungs- und Verfassungsrecht dient die communis opinio als Leitlinie bei der Interpretation von Normen, wenn weder Gesetz klar noch gerichtliche Entscheidungen eindeutig sind.

Strafrecht

Im Strafrecht kann die communis opinio herangezogen werden, um die Anforderungen an bestimmte Tatbestände oder an die Strafzumessung zu präzisieren.


Kritik und Grenzen der communis opinio

Obwohl die communis opinio vielfach zur Klarstellung und Vereinheitlichung beiträgt, unterliegt sie auch Kritik. Insbesondere die Gefahr des „Argumentierens aus Autorität“ wird benannt, da sich die communis opinio manchmal auf eine bloße Mehrheit an Stimmen stützt, ohne inhaltliche Überprüfung. Darüber hinaus besteht das Risiko, dass träge gewordene oder überholte Meinungen als communis opinio fortbestehen, obwohl sie nicht mehr der aktuellen Lebenswirklichkeit entsprechen.


Bedeutung in unterschiedlichen Rechtsordnungen

Die Bedeutung der communis opinio ist in den verschiedenen Rechtsordnungen unterschiedlich ausgeprägt. Während sie im kontinentaleuropäischen Rechtskreis als argumentativer Anhaltspunkt dient, steht im anglo-amerikanischen Rechtskreis stärker das richterliche Präjudiz im Vordergrund. Dennoch kann sie auch hier in den Kommentarliteraturen eine Rolle spielen.


Zusammenfassung

Die communis opinio stellt eine in Wissenschaft und Rechtspraxis anerkannte Auslegungs- und Auffassungsrichtung dar, die besonders bei Auslegungsunsicherheiten, in Grenzfällen oder bei fehlender Rechtsprechung als Auslegungshilfe herangezogen wird. Trotz ihrer lediglich faktischen, aber nicht formellen Bindungswirkung beeinflusst sie maßgeblich die Rechtsentwicklung, dient der Fortbildung des Rechts sowie der Vereinheitlichung der Rechtsanwendung. Hinsichtlich ihres Stellenwerts ist stets das Verhältnis zu Gesetz, Rechtsprechung und Mindermeinungen zu beachten.


Literaturverzeichnis

  • W. Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 4. Aufl., 2023
  • R. Zippelius, Juristische Methodenlehre, 12. Aufl., 2020
  • H. Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl., 1960
  • K. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 7. Aufl., 2017

Siehe auch:
Meinungsstreit, Rechtsquellenlehre, Auslegung, Rechtsdogmatik

Häufig gestellte Fragen

In welchem Zusammenhang spielt die communis opinio in der juristischen Interpretation von Gesetzen eine Rolle?

Die communis opinio, also die herrschende Meinung innerhalb der Jurisprudenz, hat im rechtlichen Kontext eine große Bedeutung für die Auslegung und Anwendung von Gesetzen. Sie dient als Orientierungsrahmen für Gerichte, Behörden und Rechtsanwender, insbesondere in Fällen, in denen das Gesetz unbestimmt ist oder Rechtslücken bestehen. Die communis opinio basiert auf der übereinstimmenden Ansicht der überwiegenden Mehrheit der Rechtswissenschaftler, Kommentatoren und gegebenenfalls auch der gerichtlichen Praxis. In der juristischen Methodenlehre wird zur Begründung einer bestimmten Rechtsansicht oftmals auf die communis opinio verwiesen, um eine argumentativ gestützte und anerkannte Auslegung zu untermauern und damit Rechtssicherheit und Vorhersehbarkeit zu gewährleisten. Dennoch ist sie rechtlich nicht zwingend bindend, sondern übernimmt eine Leitfunktion, an der sich die gerichtliche Entscheidungsfindung orientieren kann.

Welche Bedeutung hat die communis opinio im Verhältnis zu obergerichtlicher Rechtsprechung?

Die communis opinio steht im Spannungsverhältnis zur sogenannten höchstrichterlichen oder obergerichtlichen Rechtsprechung. Während die letztere in der Praxis oft de facto Bindungswirkung entfaltet (insbesondere im Rahmen des § 31 BVerfGG oder der §§ 198 ff. GVG zur richterlichen Unabhängigkeit und Rechtsfortbildung), kann die communis opinio als ergänzende oder sogar alternative Orientierung dienen, wenn eine höchstrichterliche Entscheidung zu einer konkreten Rechtsfrage fehlt oder uneinheitlich ist. In der Praxis wird die communis opinio häufig herangezogen, um die Autorität einer Rechtsauffassung herauszustellen oder von der Mindermeinung abzugrenzen. Findet eine Gerichtsentscheidung keine Deckung in der communis opinio, sieht sie sich mit erhöhter Begründungslast konfrontiert, um von der vorherrschenden Lehrmeinung abzuweichen. Die communis opinio kann so auch den Druck aufbauen, bestehende Rechtsprechung durch die Gerichte (besonders durch oberste Gerichte) zu überdenken oder weiterzuentwickeln.

Wie setzt sich die communis opinio zusammen und wie wird sie festgestellt?

Die communis opinio entsteht nicht spontan, sondern bildet sich dynamisch durch die fortlaufende Auseinandersetzung in Dissertationen, Kommentaren, Monografien, Aufsätzen sowie in den Urteilen und Beschlüssen der Gerichte heraus. Es handelt sich um ein Konstrukt, das auf der fortlaufenden Rezeption, Würdigung und Diskussion der herrschenden Quellen basiert. Die Feststellung der communis opinio erfolgt vor allem durch Auswertung und Abgleich der juristischen Literatur (Kommentare, Lehrbücher, Zeitschriftenartikel) sowie vorhandener Rechtsprechung. In gerichtlichen Entscheidungen oder wissenschaftlichen Texten wird häufig ausdrücklich darauf hingewiesen, dass es sich bei einer in Anspruch genommenen Ansicht um die communis opinio handelt („h.M.“ oder „herrschende Meinung“). Diese Zuschreibung setzt voraus, dass sie von einer breiten Mehrheit anerkannt ist; genaue Mehrheitsverhältnisse werden jedoch selten quantifiziert, sondern ergeben sich aus der Rezeption und Verbreitung der Auffassung in maßgeblichen Werken und Entscheidungen.

Kann die communis opinio auch als Argument zur Rechtsfortbildung herangezogen werden?

Ja, die communis opinio kann ein wesentliches Argument für die Rechtsfortbildung sein, insbesondere in Fällen ungeschriebener Rechtsgrundsätze oder bei der Schließung von Gesetzeslücken. Die Bezugnahme auf die communis opinio stellt sicher, dass neue Lösungen einer Problemsituation nicht willkürlich sind, sondern sich an etablierten Überzeugungen der juristischen Fachgemeinschaft orientieren. Gerade dann, wenn das geschriebene Recht keine konkrete Antwort bietet, wird die herrschende Meinung oft als maßgebliche Quelle für die Entwicklung und Etablierung neuer Rechtsinstitute oder unverfasster Rechtsgrundsätze herangezogen. Dadurch wird die Rechtsentwicklung auf einer breiten wissenschaftlichen Grundlage gestützt und erhält für die Praxis eine stärkere Legitimation.

Welche Kritikpunkte werden an der communis opinio im juristischen Diskurs geäußert?

Die communis opinio steht nicht außerhalb der Kritik. Oftmals wird ihr vorgeworfen, lediglich das juristische Establishment zu reproduzieren und so innovative oder abweichende Mindermeinungen zu verdrängen. Sie kann zur Stagnation oder zur Verfestigung von Rechtsansichten führen, die mitunter veraltet oder gesellschaftlich überholt sind. Außerdem besteht die Gefahr, dass die communis opinio auf einer unausgewogenen oder überholten Auswertung der Literatur basiert, insbesondere dann, wenn Neuentwicklungen in der Rechtsprechung oder Gesellschaft nicht rechtzeitig aufgegriffen werden. Auch wird kritisiert, dass die communis opinio gelegentlich ohne eingehende Prüfung verwendet wird, um Argumentationslücken zu kaschieren oder sich einer tiefergehenden eigenen Begründung zu entziehen (sog. „Autoritätsargument“). Eine sensible, kritische Auseinandersetzung mit der kommunizierten Mehrheitsmeinung wird daher in der Wissenschaft gefordert.

Wie verändert sich die communis opinio im Laufe der Zeit?

Die communis opinio ist ein dynamisches Konstrukt, das sich kontinuierlich an gesellschaftliche, politische, technische und rechtliche Entwicklungen anpasst. Sie kann durch neue wissenschaftliche Erkenntnisse, fortschreitende gesellschaftliche Wertvorstellungen, bahnbrechende Gerichtsurteile oder auch durch Gesetzesänderungen beeinflusst und verändert werden. Die Etablierung einer neuen communis opinio kann ein langwieriger Prozess sein, der intensive Fachdiskussionen und eine allmähliche Umorientierung der überwiegenden Mehrheit der juristischen Literatur und Praxis voraussetzt. Typischerweise manifestiert sich der Wandel zunächst vereinzelt in Fachpublikationen („Mindermeinung“), die fortschreitend an Einfluss gewinnen, bis sie schließlich zur kommunizierten herrschenden Meinung werden. Dieses Wechselspiel sichert die kontinuierliche Fortentwicklung und Anpassungsfähigkeit des Rechts.