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Charta der Grundrechte der EU


Charta der Grundrechte der Europäischen Union

Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union (auch: EU-Grundrechtecharta, kurz GRCh oder GRC) ist ein kodifizierter Katalog von Grundrechten und Grundfreiheiten, welchen die Europäische Union (EU) den Menschen in der EU gewährleistet. Die Charta wurde am 7. Dezember 2000 proklamiert und mit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon am 1. Dezember 2009 rechtsverbindlich. Sie stellt die Menschenrechte als zentrale Werte und Leitlinien der Union sicher und gilt als bedeutender Meilenstein für den Grundrechtsschutz im europäischen Rechtssystem.


Entstehung und Hintergrund

Historische Entwicklung

Die Forderung nach einem einheitlichen und verbindlichen Grundrechtekatalog für die Europäische Union wurde vor allem im Zuge der fortschreitenden Integration und der wachsenden Kompetenzen der EU-Institutionen immer dringlicher. Der Europäische Rat beschloss 1999 die Ausarbeitung einer Charta, die mit der Proklamation im Jahr 2000 erstmals eingeführt wurde. Ursprünglich hatte sie lediglich politischen, nicht jedoch rechtlich bindenden Charakter. Mit dem Vertrag von Lissabon erhielt die Charta volle Rechtsverbindlichkeit innerhalb der Union.

Stellung im europäischen Recht

Die EU-Grundrechtecharta steht seit dem 1. Dezember 2009 mit dem Vertrag von Lissabon gemäß Art. 6 Abs. 1 des Vertrags über die Europäische Union (EUV) auf derselben rechtlichen Ebene wie die EU-Verträge. Sie ergänzt und verstärkt dadurch das grundrechtliche Schutzniveau der Union.


Aufbau und Inhalt der Charta

Gliederung der Grundrechte

Die Charta umfasst insgesamt 54 Artikel, die in sieben Titel gegliedert sind:

  1. Würde des Menschen (Art. 1-5)
  2. Freiheiten (Art. 6-19)
  3. Gleichheit (Art. 20-26)
  4. Solidarität (Art. 27-38)
  5. Bürgerrechte (Art. 39-46)
  6. Justizielle Rechte (Art. 47-50)
  7. Allgemeine Bestimmungen zur Auslegung und Anwendung der Charta (Art. 51-54)

Wesentliche Rechte und Prinzipien

Zu den besonders zentralen Regelungen zählen das Recht auf Menschenwürde, das Recht auf Leben, die Privat- und Familienleben, Meinungs- und Pressefreiheit, Versammlungsfreiheit, Gleichheit vor dem Gesetz, Nichtdiskriminierung sowie diverse soziale Rechte. Die Charta nimmt zudem moderne Entwicklungen, wie etwa Datenschutz und Bioethik, auf.


Anwendungsbereich der Charta

Persönlicher und sachlicher Anwendungsbereich

Nach Art. 51 Abs. 1 GRCh gilt die Charta für die Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der EU sowie für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung von EU-Recht. Sie hat keine allgemeine Geltung im innerstaatlichen Bereich außerhalb des Anwendungsbereichs des Unionsrechts.

Einschränkungsmöglichkeiten und Grenzen

Grundrechte gemäß der Charta sind grundsätzlich nicht absolut. Einschränkungen sind unter den Voraussetzungen des Art. 52 GRCh zulässig, sofern sie gesetzlich vorgesehen sind, den Wesensgehalt der Rechte achten und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprechen.


Verhältnis zu anderen Menschenrechtsinstrumenten

Charta und Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK)

Die Charta der Grundrechte der EU steht in engem Bezug zur Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK). Gemäß Art. 52 Abs. 3 GRCh haben die in der Charta garantierten Rechte, die den entsprechenden EMRK-Rechten entsprechen, die gleiche Bedeutung und Tragweite. Die Charta kann jedoch in bestimmten Bereichen einen weitergehenden Schutz gewähren.

Verhältnis zu nationalen Grundrechten

Die nationalen Verfassungen der Mitgliedstaaten bleiben von der Geltung der EU-Grundrechtecharta grundsätzlich unberührt, soweit sie einen höheren Grundrechtsschutz bieten. Die Charta bildet somit einen Mindestschutz, der durch weiterreichende nationale Regelungen ergänzt werden kann.


Durchsetzung und gerichtlicher Rechtsschutz

Rechtsschutzmechanismen

Die Einhaltung der Charta kann vor allem vor dem Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) überprüft werden. Natürliche und juristische Personen können sich im Rahmen von Verfahren, die EU-Recht betreffen, auf die Charta berufen. Die nationalen Gerichte sind zur Anwendung und Auslegung der Charta verpflichtet, wenn sie EU-Recht auslegen.

Bindungswirkung

Die Grundrechte der Charta binden nach Art. 51 Abs. 1 GRCh die Organe der Union sowie die Mitgliedstaaten, soweit sie das Recht der EU durchführen. Sie sind unmittelbar anwendbar und können im Einzelfall Grundlage gerichtlicher Entscheidungen sein.


Bedeutung und Wirkung in der Praxis

Vertiefung des europäischen Grundrechtsschutzes

Die Charta der Grundrechte der EU stellt einen Meilenstein des europäischen Grundrechtsschutzes dar. Sie systematisiert und kodifiziert erstmals die Menschenrechte und Grundfreiheiten im Rahmen der EU und trägt zur Kohärenz sowie zur Weiterentwicklung des Grundrechteverständnisses in Europa bei.

Einfluss auf die Gesetzgebung und Verwaltung

Die Beachtung der Charta ist bei sämtlichen Rechtsetzungsakten der europäischen Gesetzgeber ebenso wie bei deren Durchführung durch die Mitgliedstaaten zwingende Voraussetzung. Verstöße gegen die Charta können zur Nichtigkeitserklärung von EU-Rechtsakten oder zu Sanktionen gegen Mitgliedstaaten führen.


Weiterführende Regelungen und Einzelfragen

Erklärungen zu den Artikeln der Charta

Die sog. „Erklärungen zur Charta der Grundrechte der Europäischen Union“ haben erläuternde Funktion und unterstützen die Auslegung der einzelnen Bestimmungen der Charta anhand des Entstehungsprozesses und des Bezugs zu internationalen Menschenrechtsdokumenten.

Opt-out-Regelungen

Bestimmte Mitgliedstaaten, insbesondere Polen und das Vereinigte Königreich, haben sich vorbehalten, die Wirkung der Charta auf ihr nationales Recht zu begrenzen (Opt-Out-Klausel gemäß Protokoll Nr. 30). Die praktische Bedeutung dieser Regelungen ist allerdings im Lichte der Rechtsprechung des EuGH umstritten und begrenzt.


Literaturhinweise


Diese strukturierte Darstellung bietet einen umfassenden Überblick über die rechtlichen Grundlagen, den Inhalt, die Wirkung und die Anwendung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union als zentrales Dokument des europäischen Grundrechtsschutzes.

Häufig gestellte Fragen

Welche rechtliche Bindungswirkung entfaltet die Charta der Grundrechte der Europäischen Union?

Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union ist seit Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon am 1. Dezember 2009 rechtlich verbindlich und hat denselben Rang wie die Verträge (Art. 6 Abs. 1 EUV). Sie ist deshalb für alle Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union sowie für die Mitgliedstaaten bei der Durchführung des Unionsrechts verbindlich. Dadurch wirkt sie beispielsweise sowohl im Rahmen der Gesetzgebung durch das Europäische Parlament als auch bei Verwaltungshandlungen der Kommission oder der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH). Für Mitgliedstaaten gilt die Bindungswirkung explizit nur, wenn sie Unionsrecht umsetzen oder anwenden; bei rein „innerstaatlichen Sachverhalten“ entfaltet die Charta keine direkte Wirkung. Ihre Vorschriften können nach Maßgabe des Art. 51 und Gerichtsentscheidungen des EuGH nationalen Rechtsakten entgegengehalten werden, soweit diese im Anwendungsbereich des Unionsrechts stehen.

In welchem Verhältnis steht die Charta zu nationalen Grundrechtskatalogen und der Europäischen Menschenrechtskonvention?

Die Charta ergänzt die bestehenden nationalen Grundrechtskataloge sowie die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK), ersetzt aber keines dieser Systeme. Nach Art. 53 der Charta bleibt der Schutz der Grundrechte nach dem Recht der Union, den internationalen Verpflichtungen und den Verfassungen der Mitgliedstaaten unberührt. Die Charta darf also nicht als abschließend betrachtet werden, vielmehr besteht zwischen den verschiedenen Katalogen eine Schutzbereichserweiterung. Der Europäische Gerichtshof achtet im Wege der „Parallelität der Grundrechte“ besonders darauf, dass bei Überschneidungen mit der EMRK mindestens das gleiche Schutzniveau gewahrt wird. Stehen höherrangige nationale Grundrechte zur Verfügung, die mehr Schutz bieten, bleibt deren Anwendung grundsätzlich möglich, soweit sie mit dem Vorrang, der einheitlichen Auslegung und der Wirksamkeit des Unionsrechts vereinbar ist.

Wie wird der Geltungsbereich der Charta der Grundrechte im Unionsrecht abgegrenzt?

Der sachliche und personelle Geltungsbereich der Charta wird in Art. 51 Abs. 1 festgelegt. Demnach ist sie für „die Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union“ vollumfänglich verbindlich. Für die Mitgliedstaaten gilt sie ausschließlich, sofern und soweit sie Unionsrecht durchführen oder anwenden. Dies hat der Europäische Gerichtshof in mehreren Urteilen konkretisiert und betont, dass die Charta nicht bei rein nationalen Angelegenheiten zur Anwendung kommt, sondern nur dann, wenn ein hinreichender „Unionsrechtsbezug“ gegeben ist. Dieser kann etwa bei der Umsetzung einer EU-Richtlinie, der Auslegung nationalen Rechts im Lichte des Unionsrechts oder bei Verwaltungsentscheidungen auf Basis einer EU-Verordnung vorliegen. Außerhalb dieses Anwendungsbereichs verbleibt allein das nationale Grundrechtsschutzsystem.

Können sich Einzelpersonen direkt auf die Charta berufen?

Obwohl die Charta ein für die Union verbindlicher Katalog ist, ist sie – soweit darin konkrete und inhaltlich hinreichend bestimmte Rechte garantiert werden – auch unmittelbar anwendbar. Einzelpersonen können sich vor nationalen Gerichten und dem Europäischen Gerichtshof auf die Charta berufen, wenn sie sich innerhalb des Anwendungsbereichs des Unionsrechts befinden. Dies betrifft insbesondere Fallkonstellationen, in denen eine Rechtsvorschrift der EU durchgeführt oder angewandt wird. Voraussetzung für die Justiziabilität ist, dass das jeweilige Grundrecht in der Charta ausreichend konkretisiert ist und nicht lediglich einen Programmsatz darstellt. Ob eine unmittelbare Wirkung besteht, wird im Einzelnen anhand des Norminhalts geprüft, wobei der EuGH die Auslegungshoheit besitzt.

Wie werden Einschränkungen der Grundrechte aus der Charta beurteilt?

Die Grundrechte der Charta sind nicht absolut, sondern unterliegen wegen ihrer gesellschaftlichen Funktion den Schranken von Art. 52. Jede Einschränkung muss gesetzlich vorgesehen, notwendig, dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprechend und die Wesensgehalte der Rechte achtend erfolgen. Einschränkungen sind nur dann zulässig, wenn sie tatsächlich einem von der Union anerkannten allgemeinen Interesse gerecht werden oder dem Schutz der Rechte und Freiheiten anderer dienen. Der Europäische Gerichtshof überprüft bei Grundrechtseinschränkungen die Einhaltung des Verhältnismäßigkeitsprinzips sowie die Wahrung des Wesensgehalts sehr kritisch. Insbesondere dürfen Einschränkungen weder eine Aushöhlung der Grundrechte noch einen übermäßigen Eingriff bewirken; der Gesetzgeber muss stets den geringstmöglichen Eingriff wählen.

Welche Rolle spielt der Europäische Gerichtshof bei der Auslegung der Charta?

Der Europäische Gerichtshof (EuGH) ist das zentrale Auslegungsorgan der Charta der Grundrechte der EU. Seine Aufgabe ist es, die einheitliche Auslegung und Anwendung der Charta im gesamten Rechtsraum der Union sicherzustellen. Alle nationalen Gerichte sind verpflichtet, den EuGH im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens gemäß Art. 267 AEUV anzurufen, wenn Auslegungsfragen zur Charta im Zusammenhang mit Unionsrecht auftreten. Die Judikatur des EuGH konkretisiert die einzelnen Grundrechte und deren Reichweite, interpretiert etwaige Einschränkungen und bestimmt die maßgeblichen Anforderungen an die Mitgliedstaaten wie auch die EU-Organe. Über seine Rechtsprechung bildet der EuGH das maßgebliche Bindeglied zwischen nationalem und europäischem Grundrechtsschutz.

Welche Bedeutung hat die Charta für die sekundärrechtliche Gesetzgebung der EU?

Die Charta stellt einen verbindlichen Prüfungsmaßstab für sämtliche Rechtsakte sekundärer Gesetzgebung – wie Verordnungen, Richtlinien und Beschlüsse – dar. Bei der Gesetzgebung ist sowohl das Europäische Parlament als auch der Rat verpflichtet, die in der Charta kodifizierten Grundrechte zu beachten. Kommt es zu Grundrechtsverstößen im Sekundärrecht, kann die betreffende Norm mittels Nichtigkeitsklage durch den EuGH für unwirksam erklärt werden (Art. 263 AEUV). Auch die Kommission achtet im Gesetzgebungsverfahren verstärkt auf einen „Grundrechte-Check“, der mögliche Verletzungen noch vor Erlass eines Rechtsakts identifizieren soll. Die Charta fungiert somit als zentrales Kontrollinstrument zur Wahrung des Grundrechtsschutzes auf europäischer Ebene.