Begriff und Rechtsgrundlagen der Brüssel IIa/IIb-Verordnung
Die Brüssel IIa- und Brüssel IIb-Verordnung, offiziell als Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 (Brüssel IIa) und Verordnung (EU) 2019/1111 (Brüssel IIb) bezeichnet, sind zentrale Rechtsakte der Europäischen Union im Bereich des internationalen Familienrechts. Sie regeln insbesondere die internationale Zuständigkeit, das anzuwendende Verfahren sowie die gegenseitige Anerkennung und Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Ehesachen und Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung.
Die Verordnungen zielen darauf ab, Rechtssicherheit und Schnelligkeit in grenzüberschreitenden familienrechtlichen Streitigkeiten innerhalb der Mitgliedstaaten der Europäischen Union zu gewährleisten.
Anwendungsbereich der Brüssel IIa/IIb-Verordnung
Persönlicher und räumlicher Geltungsbereich
Die Verordnungen sind auf alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union mit Ausnahme Dänemarks anwendbar. Sie gelten für Streitigkeiten zwischen natürlichen Personen, das heißt insbesondere für Ehegatten und Eltern minderjähriger Kinder, sofern diese einen Bezug zu verschiedenen Mitgliedstaaten aufweisen.
Sachlicher Geltungsbereich
Die Brüssel IIa/IIb-Verordnung erfasst insbesondere folgende Sachverhalte:
- Ehesachen: Verfahren zur Scheidung, Trennung ohne Auflösung des Ehebandes und Aufhebung der Ehe.
- Elterliche Verantwortung: Hierzu zählen insbesondere Sorgerecht, Umgangsrecht, Kindeswohlregelungen, die Bestimmung des Aufenthaltsortes des Kindes sowie Maßnahmen zum Schutz des Kindesvermögens.
- Weitestgehende Ausnahme: Die Verordnungen erfassen keine Aspekte hinsichtlich Unterhaltspflichten, Abstammung, Adoption, Namensrecht und Entziehung/Beschränkung der Handlungsfähigkeit.
Regelungen zur internationalen Zuständigkeit
Allgemeine Zuständigkeitsregeln
Die Verordnungen normieren in Art. 3 ff. einen Katalog an Gerichtsständen für Ehesachen und elterliche Verantwortung, wobei regelmäßig der gewöhnliche Aufenthalt der betroffenen Person, insbesondere der Ehegatten oder des Kindes, anknüpft. Bei Minderjährigen ist stets das Wohl des Kindes vorrangig zu berücksichtigen.
Besondere und ausschließliche Zuständigkeit
Bestimmte Verfahren wie etwa Maßnahmen zum Schutz des Kindes unterliegen einer ausschließlichen Zuständigkeit im Staat des gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes (Art. 8 Brüssel IIa/IIb). Bei Kindesentführungen wird ergänzend auf das Haager Kindesentführungsübereinkommen Bezug genommen.
Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Entscheidungen
Automatische Anerkennung
Nach den Brüssel IIa/IIb-Verordnungen werden gerichtliche Entscheidungen grundsätzlich ohne weiteres Anerkennungsverfahren in allen Mitgliedstaaten wirksam (Art. 21 Brüssel IIa/Art. 30 Brüssel IIb). Dies umfasst insbesondere Scheidungsurteile und Sorgerechtsentscheidungen.
Vollstreckung
Die Verordnungen regeln die Voraussetzungen, unter denen eine im Ursprungsstaat ergangene Entscheidung in einem anderen Mitgliedstaat vollstreckt werden kann. Mit der Brüssel IIb-Verordnung wurde das bisher notwendige Exequaturverfahren abgeschafft; stattdessen genügt eine entsprechende Bescheinigung nach vorgegebenem Muster durch das Ursprungsgericht (Art. 45 ff. Brüssel IIb).
Kindesentführung und grenzüberschreitende Verfahren
Zusammenarbeit der Behörden
Ein wichtiges Anliegen der Brüssel IIa/IIb-Verordnung ist die rasche Rückführung widerrechtlich entführter Kinder. Die Zusammenarbeit der zentralen Behörden der Mitgliedstaaten, der Vorrang des Haager Übereinkommens über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung und spezielle Rückführungsverfahren sind detailliert geregelt.
Vorrangige Behandlung
Gerichte und Behörden sind gehalten, Kindesentführungsverfahren mit besonderer Dringlichkeit zu behandeln, um Kindeswohlverletzungen vorzubeugen und eine schnelle Rückführung zu erreichen.
Reform durch die Brüssel IIb-Verordnung
Ziele und wesentliche Änderungen
Der Wechsel von der Brüssel IIa- zur Brüssel IIb-Verordnung ab dem 1. August 2022 bringt umfangreiche Weiterentwicklungen. Ziel ist die Vereinfachung und Beschleunigung der Anerkennung und Vollstreckung, die verstärkte Berücksichtigung des Kindeswillens sowie die Harmonisierung der Zusammenarbeit von Behörden und Gerichten.
Wichtige Neuerungen
- Abschaffung des Exequaturverfahrens für alle Entscheidungen zur elterlichen Verantwortung.
- Einführung einheitlicher Bescheinigungen für Anerkennung und Vollstreckung.
- Verfahrenssicherheiten und Teilnahme des Kindes an den Verfahren.
- Erweiterte Möglichkeiten zur Zusammenarbeit und Information zwischen zentralen Behörden.
Verhältnis zu anderen internationalen Instrumenten
Die Brüssel IIa/IIb-Verordnung steht in engem Zusammenhang mit verschiedenen internationalen Abkommen, insbesondere dem Haager Kindesentführungsübereinkommen (HKÜ). Die Verordnungen regeln vorrangig gegenüber nationalem Recht und koordinieren die Verfahren im Verhältnis zu den Regelungen des HKÜ und weiteren Haager Übereinkommen.
Schlussbemerkung
Die Brüssel IIa/IIb-Verordnung bildet das Rückgrat des europäischen internationalen Familienrechts. Sie bietet klare Regeln für die grenzüberschreitende gerichtliche Zuständigkeit, Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und betreffend die elterliche Verantwortung. Die fortlaufende Weiterentwicklung und Harmonisierung dieser Regelungen fördert den wirksamen Schutz des Kindeswohls und die Rechte aller Beteiligten im europäischen Rechtsraum.
Siehe auch
- Familienrecht“>Internationales Familienrecht
- Grundverordnung über das auf Ehescheidungen anzuwendende Recht (Rom III)
Literatur
- Ball, Brüssel IIb-Verordnung, 2023
- Musielak/Staudinger, Brüssel IIb-VO, 2023
- European Union, EUR-Lex: Brüssel IIb-Verordnung (EU) 2019/1111
Dieser Lexikoneintrag bietet umfassende und sachliche Informationen zur Brüssel IIa/IIb-Verordnung und ist Bestandteil des Themenbereichs Internationales Zivilverfahrensrecht.
Häufig gestellte Fragen
Welche zentrale Bedeutung hat der gewöhnliche Aufenthalt nach der Brüssel IIa/IIb-Verordnung?
Der gewöhnliche Aufenthalt spielt eine entscheidende Rolle bei der Bestimmung der internationalen Zuständigkeit in den Verfahren betreffend Ehescheidung, elterliche Verantwortung und Kindesentführung nach der Brüssel IIa- und IIb-Verordnung. Maßgeblich ist dabei immer der objektive Mittelpunkt der Lebensinteressen einer Person, insbesondere eines Kindes; es müssen stabile, regelmäßige, für eine gewisse Dauer angelegte Lebensumstände vorliegen. Bei minderjährigen Kindern sind insbesondere die Aufenthaltsdauer, Integration in das soziale und familiäre Umfeld, Schulbesuch und Sprachkenntnisse maßgebend. Gerichtliche Entscheidungen stützen sich häufig auf die neueste Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, der eine autonome Auslegung des Begriffs fordert, weshalb nationale Definitionen nicht entscheidend sind. Die Feststellung des gewöhnlichen Aufenthalts ist oft komplex und bedarf einer umfassenden einzelfallbezogenen Bewertung sämtlicher relevanter Umstände.
Wie wird in internationalen Trennungs- und Scheidungsverfahren die gerichtliche Zuständigkeit bestimmt?
Die gerichtliche Zuständigkeit für Verfahren nach der Brüssel IIa/IIb-Verordnung wird nach streng hierarchisch aufgebauten Zuständigkeitsregeln bestimmt, die die vorrangige Bindung an den gewöhnlichen Aufenthalt der Ehegatten und deren Staatsangehörigkeit vorsehen. Vorrangig ausschlaggebend sind dabei grundsätzlich der gemeinsame gewöhnliche Aufenthalt oder der letzte gemeinsame gewöhnliche Aufenthalt, sofern einer der Ehegatten dort noch lebt. Daneben können auch die Staatsangehörigkeit oder – in bestimmten Fällen – der Wohnsitz einer Partei die Zuständigkeit begründen. Stehen mehrere Gerichte in unterschiedlichen Mitgliedstaaten zur Auswahl, greift das sog. Prioritätsprinzip („Lis pendens“), sodass das zuerst befasste Gericht Vorrang hat. Die Verordnung untersagt darüber hinaus die Schaffung von Gerichtsstandsvereinbarungen, es sei denn, sie ist in klar definierten Konstellationen ausdrücklich erlaubt.
Können Entscheidungen über das Sorgerecht nach der Brüssel IIa/IIb-Verordnung in anderen EU-Mitgliedstaaten anerkannt und vollstreckt werden?
Ja, die Brüssel IIa- und besonders die Brüssel IIb-Verordnung regeln die Anerkennung und Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen über die elterliche Verantwortung innerhalb der EU-Mitgliedstaaten. Grundsätzlich werden Entscheidungen ohne weiteres besonderes Verfahren gegenseitig anerkannt, mit Ausnahme von Dänemark, das nicht Teil des neuen Systems ist. Um jedoch vollstreckt zu werden, ist nach Brüssel IIa noch ein Vollstreckbarerklärungsverfahren (sog. „exequatur“) notwendig; dies entfällt für neuere Entscheidungen gemäß der Brüssel IIb-Verordnung ab 1. August 2022. Anerkennung oder Vollstreckung können nur aus eng begrenzten Gründen verweigert werden, z. B. bei offenkundigem Verstoß gegen die öffentliche Ordnung („ordre public“) oder beim Fehlen rechtlichen Gehörs einer Partei. Die Verordnung enthält zudem spezielle Regelungen für die Rückgabe unrechtmäßig verbrachter Kinder sowie für sog. „besonders privilegierte Rückgabeentscheidungen“.
Welches Verhältnis besteht zwischen der Brüssel IIa/IIb-Verordnung und dem Haager Kindesentführungsübereinkommen?
Die Brüssel IIa/IIb-Verordnung und das Haager Kindesentführungsübereinkommen (HKÜ) ergänzen sich, wobei die Verordnung bestimmte gegenüber dem HKÜ vorrangige und ergänzende Vorschriften enthält. Innerhalb der Europäischen Union geht die Brüssel IIb-Verordnung dem HKÜ in weiten Teilen vor und schafft spezifische Procedere, etwa zum beschleunigten Kinderrückgabeverfahren und zur Zuständigkeit der Gerichte. Besonders hervorzuheben ist, dass Art. 29 Brüssel IIb ausdrücklich den Vorrang der Verordnung regelt, soweit es um Verfahren zur Rückgabe des Kindes und um Anerkennung und Vollstreckung entsprechender Entscheidungen geht. Kommt es dennoch zu Überschneidungen, sind die Gerichte der Mitgliedstaaten verpflichtet, die spezielleren und weitergehenden Vorgaben der Brüssel IIb-Verordnung anzuwenden.
Inwiefern erfasst die Brüssel IIa/IIb-Verordnung auch Fragen der Umgangs- und Besuchsrechtsregelungen?
Die Brüssel IIa/IIb-Verordnung regelt nicht nur die elterliche Sorge, sondern ausdrücklich auch das Umgangs- und Besuchsrecht (Kontaktrecht). Die Zuständigkeit für Verfahren zu Umgangs- und Besuchsrechten wird nach denselben Grundsätzen wie bei Sorgeverfahren bestimmt, also regelmäßig am gewöhnlichen Aufenthalt des Kindes. Auch hier gelten die Vorschriften zur Anerkennung und Vollstreckung; dies soll sicherstellen, dass in einem Mitgliedstaat ergangene Umgangsregelungen auch in anderen Staaten umsetzbar sind. Außergewöhnlich ist, dass die Brüssel IIb-Verordnung fortschrittliche Schutzmechanismen für die wirksame Durchsetzung von Umgangsrechten vorsieht, beispielsweise die Ausstellung eines besonderen „Zertifikats“ für Entscheidungen über das Umgangsrecht, das die Vollstreckung ohne weitere Verfahren erleichtert.
Welche Rechtsmittel stehen gegen Entscheidungen nach der Brüssel IIa/IIb-Verordnung zur Verfügung?
Gegen Entscheidungen, die auf der Grundlage der Brüssel IIa/IIb-Verordnung ergehen, stehen grundsätzlich die jeweils national vorgesehenen Rechtsmittel zur Verfügung. Die Verordnung selbst sieht keine eigenständigen unionsrechtlichen Beschwerdewege oder Instanzen vor, sondern verweist vollständig auf das nationale Verfahrensrecht. In grenzüberschreitenden Fällen relevant ist zudem, dass bei Anerkennungs- oder Vollstreckungsverfahren nach der Brüssel IIb-Verordnung ebenfalls nationale Rechtsbehelfe gegen Anerkennungs- und Vollstreckungsentscheidungen vorgesehen sind und eine Aussetzung der Vollstreckung beantragt werden kann. Für grundlegende Fragen der Auslegung kann im Zweifel der Europäische Gerichtshof im Wege eines Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 AEUV angerufen werden.
Wie wirken sich Änderungen des gewöhnlichen Aufenthalts auf laufende Verfahren aus?
Änderungen des gewöhnlichen Aufenthalts während eines noch laufenden Verfahrens haben grundsätzlich keinen Einfluss auf die einmal begründete Zuständigkeit („perpetuatio fori“). Das bedeutet, dass die Zuständigkeit der Gerichte zum Zeitpunkt der Verfahrenseinleitung maßgeblich bleibt, selbst wenn das Kind oder die betroffenen Personen im Verlauf des Prozesses in einen anderen Mitgliedstaat umziehen. Nur in seltenen Ausnahmefällen, wenn also das Verfahren noch nicht anhängig ist oder die Umstände eine Abweichung zwingend machen, ist eine erneute Prüfung oder Verlagerung der Zuständigkeit geboten. Die Verordnung verfolgt damit das Ziel, Verfahrensverzögerungen und Manipulationen durch Umzüge auszuschließen und Rechtssicherheit zu gewährleisten.