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Binnenmarkt, Umsatzsteuer


Binnenmarkt und Umsatzsteuer: Grundlagen und Rechtsrahmen

Der Binnenmarkt und die Umsatzsteuer stehen im Zentrum des europäischen Wirtschaftsrechts und des deutschen Steuerrechts. Die Umsatzsteuer (auch Mehrwertsteuer genannt) ist eine Verbrauchsteuer, die Lieferungen und sonstige Leistungen im Inland, im innergemeinschaftlichen Erwerb sowie bei der Einfuhr von Waren betrifft. Im Rahmen des Europäischen Binnenmarkts erfährt die Systematik der Umsatzbesteuerung besondere Regelungen, die dem freien Waren- und Dienstleistungsverkehr innerhalb der Europäischen Union Rechnung tragen. Die nachfolgende Darstellung erläutert die Begriffe sowie die rechtlichen Grundlagen, Anwendungsbereiche und Harmonisierungsvorschriften umfassend.


Begriff und Funktion des Binnenmarkts

Innerhalb der Europäischen Union beschreibt der „Binnenmarkt“ einen gemeinsamen Wirtschaftsraum ohne Binnengrenzen, der durch die vier Grundfreiheiten – freien Warenverkehr, Dienstleistungsfreiheit, Kapitalverkehrsfreiheit und Personenfreizügigkeit – geprägt ist. Ziel ist die Förderung des Handels und der wirtschaftlichen Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten, was eine Harmonisierung der rechtlichen Rahmenbedingungen, insbesondere der Umsatzbesteuerung, erfordert.


Umsatzsteuer im europäischen Binnenmarkt

Rechtsgrundlagen

Die maßgeblichen Regelungen ergeben sich insbesondere aus folgenden Rechtsquellen:

  • Richtlinie 2006/112/EG („MwStSystRL“): Diese Mehrwertsteuersystemrichtlinie ist zentral für die Harmonisierung der Umsatzsteuer in der EU. Sie legt die Grundprinzipien für die Besteuerung von Warenlieferungen und Dienstleistungen fest.
  • Umsatzsteuergesetz (UStG): In Deutschland werden die Vorgaben der Mehrwertsteuersystemrichtlinie in nationales Recht umgesetzt.
  • Verordnung (EU) Nr. 904/2010: Sie regelt die Zusammenarbeit der Steuerbehörden der EU-Mitgliedsstaaten bei der Verhinderung von Umsatzsteuerbetrug.

Ziel der Harmonisierung

Die Harmonisierung der Umsatzsteuer im Binnenmarkt dient der Verhinderung von Wettbewerbsverzerrungen und Steuerhinterziehung sowie der Erleichterung des grenzüberschreitenden Waren- und Dienstleistungsverkehrs.


Systematik der Umsatzsteuer im Binnenmarkt

Grundprinzip: Besteuerung am Bestimmungsort

Im Binnenmarkt gilt im grenzüberschreitenden Handel regelmäßig das Bestimmungslandprinzip. Das bedeutet, dass Lieferungen von Waren grundsätzlich am Ort des Verbrauchs der Umsatzsteuer unterliegen.

Unterscheidung: Lieferung und sonstige Leistung

Die Umsatzsteuer differenziert, entsprechend der Mehrwertsteuersystemrichtlinie, zwischen

  • Warenlieferungen
  • sonstigen Leistungen (etwa Dienstleistungen)

Durch diese Unterscheidung ergeben sich differenzierte Regelungen für die Umsatzbesteuerung im Binnenmarkt.


Besondere Sachverhalte im Binnenmarkt: Innergemeinschaftlicher Erwerb und Lieferung

Innergemeinschaftliche Lieferung

Im Rahmen des europäischen Binnenmarkts ist die „innergemeinschaftliche Lieferung“ eine steuerfreie Lieferung, sofern bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind:

  • Die Ware wird von einem EU-Mitgliedstaat in einen anderen Mitgliedstaat geliefert,
  • Der Abnehmer ist ein Unternehmer (oder eine juristische Person) und
  • Der Erwerber verwendet eine gültige Umsatzsteuer-Identifikationsnummer.

Als Nachweis für die Ausfuhr werden regelmäßig Belege wie Fracht- oder Versandpapiere verlangt.

Steuerfreiheit

Die Steuerfreiheit der Lieferung im Ursprungsland korrespondiert mit der Besteuerung des innergemeinschaftlichen Erwerbs im Bestimmungsland. Die Steuerfreiheit erfordert die Erfüllung aller Nachweispflichten (Beleg- und Buchnachweis) gemäß §§ 4 Nr. 1b i.V.m. § 6a UStG.

Innergemeinschaftlicher Erwerb

Der innergemeinschaftliche Erwerb bezeichnet den Erwerb von Waren aus einem anderen EU-Mitgliedstaat gegen Entgelt durch einen Unternehmer oder eine juristische Person.

  • Der Erwerb unterliegt grundsätzlich der Erwerbsbesteuerung im Bestimmungsland.
  • Maßgeblich sind §§ 1 Abs. 1 Nr. 5 und 3d UStG.

Der Erwerber ist in diesen Fällen Steuerschuldner und muss die Umsatzsteuer im Empfängerstaat anmelden und abführen (sogenanntes „Reverse-Charge-Verfahren“).


Umsatzsteuerliche Regelungen bei Dienstleistungen im Binnenmarkt

Für die Erbringung grenzüberschreitender Dienstleistungen sieht das Rechtssystem gesonderte Bestimmungen vor, die sich insbesondere im Ort der sonstigen Leistung niederschlagen (§ 3a UStG, Art. 44 und 45 MwStSystRL):

  • An Unternehmer erbrachte Leistungen sind grundsätzlich im Empfängerland steuerbar (Empfängerortprinzip).
  • An Privatpersonen erbrachte Leistungen sind in der Regel im Land des Leistenden steuerbar (Leistungsortprinzip).

Für bestimmte Dienstleistungen (z.B. elektronische Dienstleistungen, Telekommunikationsdienste) existieren Sonderregelungen (bspw. das Mini-One-Stop-Shop-Verfahren, inzwischen OSS-Verfahren).


Umsatzsteuer-Identifikationsnummer und Meldepflichten

Bedeutung der Umsatzsteuer-Identifikationsnummer

Die Umsatzsteuer-Identifikationsnummer (USt-IdNr.) dient der eindeutigen Identifizierung von Unternehmern im innergemeinschaftlichen Handel. Sie ist Voraussetzung für die Steuerfreiheit innergemeinschaftlicher Lieferungen und zur Anwendung des Reverse-Charge-Verfahrens.

Meldepflichten

  • Zusammenfassende Meldung (§ 18a UStG): Unternehmer müssen innergemeinschaftliche Lieferungen, innergemeinschaftliche Dreiecksgeschäfte und bestimmte sonstige Leistungen vierteljährlich oder monatlich melden.
  • Vorsteuervergütungsverfahren: Unternehmer können unter bestimmten Voraussetzungen gezahlte Umsatzsteuer in anderen EU-Staaten erstattet bekommen.

Umsatzsteuerbetrug und Maßnahmen zur Bekämpfung

Die Komplexität der Umsatzsteuer im Binnenmarkt bietet auch Angriffspunkte für Steuerhinterziehung, namentlich durch den so genannten Karussellbetrug. Die EU und die Mitgliedstaaten haben Kooperationen sowie Melde- und Kontrollmechanismen (z.B. das Mehrwertsteuer-Informationsaustauschsystem – MIAS) geschaffen, um sofortigen Informationsaustausch und Kontrolle zu ermöglichen.


Umsatzsteuerliche Behandlung von Ausfuhrlieferungen und Einfuhren

Ausfuhrlieferungen (Drittlandexport)

Lieferungen aus einem EU-Mitgliedstaat in einen Drittstaat (außerhalb der EU) gelten als Ausfuhrlieferungen und sind unter bestimmten Voraussetzungen steuerfrei (§ 4 Nr. 1a, § 6 UStG), wobei der Ausfuhrnachweis entscheidend ist.

Einfuhren aus Drittländern

Waren, die aus Drittländern in die EU eingeführt werden, unterliegen der Einfuhrumsatzsteuer (§ 1 Abs. 1 Nr. 4 UStG; Art. 2 Abs. 1 Buchstabe d MwStSystRL), die vom Zoll erhoben wird. Im Anschluss kann je nach Fall der Vorsteuerabzug geltend gemacht werden.


Sonderfälle und Sonderregelungen

Innergemeinschaftliche Dreiecksgeschäfte

Unternehmen können unter bestimmten Voraussetzungen auf ein vereinfachtes Verfahren zugreifen (sog. Dreiecksgeschäft; § 25b UStG). Dadurch wird die Steuerschuld im Bestimmungsland auf den letzten Abnehmer übertragen.

Kleine Unternehmen (Kleinunternehmerregelung)

Innerhalb des Binnenmarkts gelten für kleine Unternehmen länderspezifische Schwellenwerte, die entsprechende Erleichterungen bei Melde-, Registrierungs- und Besteuerungspflichten enthalten können.

Fernverkaufsregelung

Seit 1. Juli 2021 gilt für den Versandhandel innerhalb der EU die neue Fernverkaufsregelung (§ 3c UStG), verbunden mit der Ausweitung des One-Stop-Shop-Verfahrens (OSS), das eine zentrale Registrierung und Abführung der Steuer in nur einem Mitgliedstaat ermöglicht.


Zusammenfassung

Der Binnenmarkt und die Umsatzsteuer bilden zusammen ein hochkomplexes Regelungsgefüge mit weitreichenden praktischen Auswirkungen für Unternehmen und Handelnde im europäischen Wirtschaftsraum. Die Harmonisierung der Umsatzbesteuerung, die Zuordnung der Steuerpflicht zum Bestimmungsland, die Einführung einheitlicher Melde- und Kontrollmechanismen sowie fortschreitende Digitalisierung sind zentrale Merkmale der modernen Regelungen. Im Fokus stehen der Schutz vor Steuerhinterziehung, die Vermeidung von Wettbewerbsverzerrungen und die Sicherstellung eines reibungslosen, grenzüberschreitenden Handels innerhalb der Europäischen Union.

Häufig gestellte Fragen

Wie wird die Umsatzbesteuerung bei innergemeinschaftlichen Lieferungen im Binnenmarkt rechtlich geregelt?

Innergemeinschaftliche Lieferungen sind Lieferungen von Gegenständen aus einem EU-Mitgliedstaat in einen anderen EU-Mitgliedstaat an einen Unternehmer für dessen Unternehmen oder an eine juristische Person, die keine Unternehmerin ist, aber zum Erwerb von Gegenständen verpflichtet ist. Rechtlich werden diese Lieferungen gemäß § 4 Nr. 1b i.V.m. § 6a UStG im deutschen Umsatzsteuerrecht von der Umsatzsteuer befreit, sofern bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind. Zu den wesentlichen Bedingungen zählen: Der Erwerber muss eine gültige Umsatzsteuer-Identifikationsnummer besitzen und die Lieferung muss physisch von einem Mitgliedstaat in einen anderen gelangen. Zudem ist der Lieferant verpflichtet, die Lieferung in der Zusammenfassenden Meldung (ZM) korrekt zu deklarieren und den Nachweis über die tatsächliche Verbringung des Liefergegenstands zu führen (sog. Beleg- und Buchnachweis). Die Erwerbsbesteuerung (Erwerbsteuer) wird dann im Bestimmungsland (Zielland) vom Erwerber nach den dortigen Vorschriften vorgenommen. Es gelten umfangreiche Dokumentations- und Nachweispflichten einschließlich Rechnungsanforderungen gemäß §§ 14, 14a UStG und der Verweis auf europarechtliche Normen wie die MwStSystRL. Sämtliche Verstöße gegen diese Pflichten können zu einer Versagung der Steuerbefreiung führen und eine Nachbesteuerung im Ursprungsland nach sich ziehen.

Welche Pflichten treffen Unternehmen bei innergemeinschaftlichen Dienstleistungen im Binnenmarkt hinsichtlich der Umsatzsteuer?

Im Bereich der Dienstleistungen innerhalb des Binnenmarkts greift das sogenannte Empfängerortprinzip gemäß § 3a Abs. 2 UStG und Art. 44 MwStSystRL. Dies bedeutet, dass grenzüberschreitende Dienstleistungen an Unternehmer dort zu besteuern sind, wo der Leistungsempfänger seinen Sitz hat. Der Leistungserbringer ist grundsätzlich von der deutschen Umsatzsteuer befreit und muss auf der Rechnung die Umsatzsteuer-ID des Leistungsempfängers sowie einen Hinweis auf die Steuerbefreiung und den Übergang der Steuerschuldnerschaft (Reverse-Charge) anbringen. Zudem besteht die Verpflichtung, diese Leistungen in der ZM zu melden (§ 18a UStG). Der Leistungsempfänger muss den Umsatz nach nationalem Recht als innergemeinschaftlichen Erwerb versteuern und gegebenenfalls den Vorsteuerabzug geltend machen. Die Einhaltung der formellen und materiellen Anforderungen, wie die korrekte Rechnungsstellung und Nachweisführung, ist für die Steuerfreiheit unerlässlich.

Welche Melde- und Nachweispflichten bestehen für innergemeinschaftliche Umsätze im Binnenmarkt?

Unternehmen, die innergemeinschaftliche Lieferungen oder sonstige Leistungen (Dienstleistungen) erbringen, sind nach § 18a UStG verpflichtet, eine Zusammenfassende Meldung (ZM) abzugeben. Die ZM enthält detaillierte Angaben zu den Leistungsempfängern (Name, Anschrift, USt-IdNr.) und zum Wert der gelieferten Gegenstände oder erbrachten Dienstleistungen. Darüber hinaus sind die Unternehmer verpflichtet, für innergemeinschaftliche Lieferungen einen Beleg- und Buchnachweis zu führen (§ 17c UStDV). Unternehmer müssen insbesondere alle Beförderungs- oder Versendungsbelege, Lieferscheine, Speditionsaufträge und weitere Nachweise revisionssicher vorhalten. Ohne ordnungsgemäße Meldung oder Nachweis kann die Steuerbefreiung entfallen, was zu erheblichen Steuernachzahlungen führen kann. Meldeverstöße können zudem mit empfindlichen Bußgeldern nach § 26a UStG sanktioniert werden.

Wie wird die Umsatzsteuer im Falle von Dreiecksgeschäften im Binnenmarkt rechtlich behandelt?

Dreiecksgeschäfte (§ 25b UStG) sind spezielle Konstellationen, bei denen drei in verschiedenen EU-Mitgliedstaaten ansässige Unternehmer an einem Umsatz beteiligt sind und die Warenbewegung unmittelbar vom ersten zum dritten Unternehmer erfolgt. Rechtlich wird dem mittleren Unternehmer (Zwischenhändler) für seine Lieferung die Umsatzsteuerschuldnerschaft auf den letzten Abnehmer übertragen (Reverse-Charge). Die Voraussetzungen umfassen, dass sämtliche Beteiligte in unterschiedlichen Mitgliedstaaten registriert sind, jeder eine gültige USt-IdNr. besitzt und der mittlere Unternehmer die steuerbefreite Lieferung in der ZM meldet. Die Rechnung muss einen Hinweis auf das Dreiecksgeschäft enthalten; ein ordnungsgemäßer Nachweis über die Warenbewegung ist unerlässlich. Fehler in den Belegen, Meldungen oder der Rechnungsgestaltung können zur Nachversteuerung führen.

Welche Rechtsfolgen ergeben sich bei fehlerhafter Verwendung oder ungültiger Umsatzsteuer-Identifikationsnummer im Binnenmarkt?

Die Verwendung einer ungültigen oder nicht zum Zeitpunkt des Umsatzes gültigen Umsatzsteuer-Identifikationsnummer (USt-IdNr.) eines Erwerbers führt gemäß Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zur Versagung der Steuerbefreiung für innergemeinschaftliche Lieferungen. Der Lieferant trägt die Verantwortung, die Gültigkeit der USt-IdNr. des Abnehmers vor Ausführung des Umsatzes zu überprüfen (Bestätigungsverfahren beim Bundeszentralamt für Steuern). Wird eine ungültige USt-IdNr. verwendet oder das Ergebnis nicht dokumentiert, kann dies eine umsatzsteuerpflichtige Inlandsleistung zur Folge haben. In schwerwiegenden Fällen drohen zudem steuerstrafrechtliche Konsequenzen wie Bußgelder oder Steuerhinterziehung nach § 370 AO.

Welcher Steuerbetrag ist in Rechnungen auszuweisen, wenn ein EU-Unternehmer an einen anderen Unternehmer im Binnenmarkt liefert?

Bei innergemeinschaftlichen Lieferungen oder Leistungen ist im Regelfall keine Umsatzsteuer in der Rechnung auszuweisen. Die Rechnung muss stattdessen den Hinweis auf die Steuerbefreiung und das Reverse-Charge-Verfahren enthalten (§ 14a Abs. 3 UStG). Die verpflichtenden Angaben umfassen insbesondere die eigenen und die ausländische USt-IdNr., das Lieferdatum und die Bezeichnung als „steuerfreie innergemeinschaftliche Lieferung“ bzw. den Hinweis „Steuerschuldnerschaft des Leistungsempfängers“. Ein unberechtigter Ausweis der Umsatzsteuer zieht die sogenannte „unrichtige Steuer“ nach sich, die vom Aussteller geschuldet wird (§ 14c UStG), selbst wenn keine Steuer entsteht.

Welche Besonderheiten gelten für sogenannte innergemeinschaftliche Verbringungstatbestände?

Eine innergemeinschaftliche Verbringung liegt gemäß § 3 Abs. 1a UStG, Art. 17 MwStSystRL vor, wenn ein Unternehmer einen Gegenstand seines Unternehmens zu eigenen Zwecken aus dem Inland in das übrige Gemeinschaftsgebiet verbringt. Rechtlich wird diese Verbringung wie eine Lieferung behandelt, die im Ausgangsstaat steuerfrei ist (wie eine innergemeinschaftliche Lieferung). Im Bestimmungsland entsteht beim Unternehmer eine Erwerbsbesteuerung gemäß § 1a Abs. 2 UStG. Die Verbringung ist als solcher Umsatz zu melden und entsprechend nachzuweisen (ZM, Belegnachweis). Fehler in der Dokumentation führen im Regelfall zur Nachversteuerung im Ursprungsland.