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Billigkeitserlass


Begriffsbestimmung und rechtliche Grundlagen des Billigkeitserlasses

Definition des Billigkeitserlasses

Der Begriff Billigkeitserlass bezeichnet im deutschen Steuerrecht eine Form der außerordentlichen Minderung oder Aufhebung von Steueransprüchen durch die Finanzbehörden, wenn die Erhebung der Steuer im Einzelfall nach Lage des Sachverhalts unbillig wäre. Grundlage hierfür sind die §§ 163 und 227 Abgabenordnung (AO). Ziel des Billigkeitserlasses ist es, Härtefälle zu vermeiden, die bei strikter Anwendung des Steuerrechts entstehen könnten.

Gesetzliche Grundlage

§ 163 AO – Billigkeitsmaßnahmen bei der Steuerfestsetzung

Nach § 163 AO kann eine Steuer ganz oder teilweise erlassen werden, wenn ihre Festsetzung nach Lage des Einzelfalls unbillig wäre. Unbilligkeit liegt typischerweise vor, wenn die Besteuerung mit einem atypischen Sachverhalt verbunden ist, der vom Gesetzgeber erkennbar nicht geregelt und vom Sinn und Zweck der gesetzlichen Regelung nicht mehr erfasst wird.

§ 227 AO – Billigkeitserlass bei Steuererhebung

§ 227 AO sieht einen Billigkeitserlass im Rahmen der Steuererhebung vor. Danach kann eine bereits festgesetzte Steuer ganz oder teilweise erlassen werden, wenn die Einziehung nach der Lage des einzelnen Falles unbillig wäre. Hier unterscheidet man zwischen sachlicher und persönlicher Unbilligkeit.

Voraussetzungen und Arten des Billigkeitserlasses

Sachliche Unbilligkeit

Von sachlicher Unbilligkeit spricht man, wenn die Anwendung des Steuergesetzes zu einem nach Sinn und Zweck der Norm nicht mehr vertretbaren Ergebnis führt. Dies kann beispielsweise der Fall sein, wenn durch eine atypische Fallgestaltung ein doppelter Steuerzugriff entsteht, der nicht im Einklang mit der Intention des Gesetzgebers steht. Entscheidend ist stets die Prüfung des Einzelfalls, wobei die Rechtsauslegung auf eine verfassungskonforme und gerechte Anwendung abzielt.

Persönliche Unbilligkeit

Persönliche Unbilligkeit liegt vor, wenn zwar die tatbestandlichen Voraussetzungen des Steuergesetzes erfüllt sind, besondere persönliche Umstände einer Person die Zahlung jedoch als unzumutbar erscheinen lassen. Typische Fälle sind schwerwiegende finanzielle Notlagen, existenzielle Bedrohungen wie Krankheit, Erwerbsunfähigkeit oder außergewöhnliche soziale Härten, welche die Zahlung der Steuer im Einzelfall als nicht zumutbar erscheinen lassen.

Billigkeitserlass von Steuerarten

Die Grundsätze des Billigkeitserlasses gelten grundsätzlich für alle Steuerarten, insbesondere für Einkommensteuer, Körperschaftsteuer, Gewerbesteuer, Umsatzsteuer und Erbschaftsteuer. Die Anwendbarkeit auf bestimmte Nebenleistungen wie Zinsen, Säumniszuschläge und Verspätungszuschläge ist ebenso möglich, sofern die jeweiligen Voraussetzungen vorliegen.

Verfahren des Billigkeitserlasses

Antragstellung

Ein Billigkeitserlass erfolgt ausschließlich auf Antrag des Steuerpflichtigen. Der Antrag ist in Schriftform bei der zuständigen Finanzbehörde einzureichen. Der Steuerpflichtige trägt die Beweislast für das Vorliegen der Unbilligkeit und hat die außergewöhnlichen Umstände im Einzelnen zu belegen. Die Finanzbehörde prüft daraufhin, ob die gesetzlichen Voraussetzungen im Einzelfall vorliegen.

Ermessensentscheidung der Finanzbehörde

Die Entscheidung der Finanzbehörde über einen Billigkeitserlass erfolgt nach pflichtgemäßem Ermessen. Das Erfordernis der Einzelfallprüfung erlaubt keine schematische Ablehnung oder Bewilligung. Die Entscheidung muss unter Berücksichtigung aller maßgeblichen Umstände des Einzelfalls dokumentiert und begründet werden.

Ablehnung und Rechtsschutz

Wird ein Antrag auf Billigkeitserlass abgelehnt, steht dem Antragsteller der Weg des Einspruchs gemäß § 347 AO offen. Nach erfolglosem Einspruch kann Klage beim zuständigen Finanzgericht erhoben werden. Die gerichtliche Überprüfung beschränkt sich meist auf die Frage der Ermessensüberschreitung oder Ermessensmissbrauch.

Abgrenzung zu verwandten Rechtsinstrumenten

Stundung und Vollstreckungsaufschub

Der Billigkeitserlass ist von anderen steuerlichen Begünstigungsmöglichkeiten abzugrenzen. Während eine Stundung nach § 222 AO eine lediglich zeitlich befristete Zahlungserleichterung darstellt, geht der Billigkeitserlass weiter und führt zur teilweisen oder vollständigen Erlöschung der Steuerschuld. Der Vollstreckungsaufschub (§ 258 AO) betrifft lediglich die Zwangsvollstreckungsmaßnahmen und tangiert nicht die Steuerforderung selbst.

Verwirkung und Verjährung

Ein Billigkeitserlass setzt voraus, dass der Steueranspruch grundsätzlich noch besteht und nicht bereits durch Zeitablauf erloschen ist. Die Begriffe Verwirkung und Verjährung stellen eigenständige Rechtsinstitute dar, die unabhängig von der Billigkeitsregelung ein Erlöschen des Anspruchs zur Folge haben können.

Beispiele aus der Praxis

Sachliche Unbilligkeit – Beispiel

Ein Einkommensteuerpflichtiger hat Verluste aus dem Jahr 2022, die nach dem Gesetz eigentlich nicht mehr vortragsfähig wären. Aufgrund einer atypischen Fallgestaltung, wie z.B. eines gerichtlichen Verbots der Verlustverrechnung im Einflussbereich der Finanzbehörde, kann ein Billigkeitserlass der Steuerschuld geboten sein.

Persönliche Unbilligkeit – Beispiel

Ein Kleinunternehmer erkrankt schwer und verliert dadurch sein gesamtes Einkommen. Das Steuerrecht sieht keine Möglichkeit zur vollständigen Entlastung vor. In diesem Fall kann die vollständige Zahlungsunfähigkeit zur Annahme persönlicher Unbilligkeit führen, was einen Billigkeitserlass ermöglicht.

Bedeutung und Grenzen des Billigkeitserlasses

Der Billigkeitserlass dient als Korrektiv bei starrer Anwendung des Steuerrechts und ist Ausdruck des im Grundgesetz verankerten Prinzips der Verhältnismäßigkeit. Er soll sicherstellen, dass individuelle Härten und atypische Sachverhalte Berücksichtigung finden und das Steueraufkommen nicht auf unbillige Weise erhoben wird. Die restriktive Handhabung und strenge Einzelfallprüfung gewährleisten gleichzeitig die Rechtssicherheit und Gleichbehandlung aller Steuerpflichtigen.

Gleichwohl bildet der Billigkeitserlass eine Ausnahme von der Regelbesteuerung und unterliegt strengen rechtlichen Voraussetzungen, deren Einhaltung durch die Finanzgerichte überprüfbar ist.

Literatur und weiterführende Hinweise

  • Abgabenordnung (AO)
  • Anwendungserlass zur Abgabenordnung (AEAO)
  • Bundesfinanzhof, diverse Entscheidungen zum Billigkeitserlass
  • Fachliteratur zum Steuerrecht und zur Verwaltungspraxis

Häufig gestellte Fragen

Unter welchen rechtlichen Voraussetzungen kann ein Billigkeitserlass gemäß § 227 AO gewährt werden?

Ein Billigkeitserlass setzt voraus, dass die Einziehung einer Steuer im Einzelfall nach Lage des besonderen Sachverhalts unbillig wäre. Es wird zwischen sachlicher und persönlicher Unbilligkeit unterschieden. Sachliche Unbilligkeit liegt vor, wenn die Steuer ihren Zweck unter den besonderen Umständen des Falles verfehlen bzw. zu einem vom Gesetzgeber erkennbar nicht gewollten Ergebnis führen würde, etwa wenn ein gesetzlicher Fehler vorliegt. Persönliche Unbilligkeit ist gegeben, wenn die Einziehung der Steuer zwar grundsätzlich rechtmäßig wäre, aber die persönliche Lage des Steuerpflichtigen außergewöhnlich belastet wäre, beispielsweise aufgrund wirtschaftlicher Notlagen, die nicht vorhersehbar waren. Zu beachten ist, dass vor Antragstellung eine vollständige Offenlegung der wirtschaftlichen Verhältnisse erfolgt. Die Finanzbehörde prüft das gesamte Ermessen sorgfältig; der Billigkeitserlass ist stets eine Ausnahme von der gesetzlichen Steuerpflicht und keine allgemeine Billigkeitsentscheidung.

Wer ist für die Entscheidung über den Billigkeitserlass zuständig und wie läuft das Verfahren?

Für die Entscheidung über den Billigkeitserlass ist grundsätzlich das für die Steuerfestsetzung zuständige Finanzamt zuständig (§ 5 AO, §§ 16-18 AO). Das Verfahren beginnt mit einem formlosen Antrag des Steuerpflichtigen, in dem die Gründe für die Unbilligkeit zu dokumentieren sind. Es folgt eine amtliche Ermittlung (§ 88 AO), bei der das Finanzamt alle erforderlichen Tatsachen und Nachweise einholt, insbesondere zu den persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen. Der Steuerpflichtige hat eine umfassende Mitwirkungspflicht und muss entsprechende Belege wie Einkommen, Vermögensverhältnisse sowie nachgewiesene Zahlungsschwierigkeiten beibringen. Über den Antrag wird durch Verwaltungsakt entschieden; die Entscheidung ist zu begründen und kann per Einspruch (§ 347 AO) angefochten werden.

Gilt ein Billigkeitserlass auch für bereits bestandskräftige Steuerbescheide?

Ja, ein Billigkeitserlass kann grundsätzlich auch für bestandskräftige Steuerbescheide beantragt und gewährt werden. Allerdings ist der Anwendungsbereich eingeschränkt, weil nach Eintritt der Bestandskraft die Durchbrechung des Grundsatzes der Rechtssicherheit nur in Ausnahmefällen erfolgen darf. Voraussetzung ist, dass im Einzelfall nachweisbar Unbilligkeit bei der Einziehung der Steuer besteht und der Fall nicht durch nachträgliche grobe Fahrlässigkeit des Steuerpflichtigen verursacht wurde. Die Finanzbehörde übt ihr Ermessen auch hier sorgfältig aus und trifft die Entscheidung unter Berücksichtigung des Vertrauensschutzes und der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung.

Ist ein Billigkeitserlass auf bestimmte Steuerarten oder Steuerzeiträume beschränkt?

Ein Billigkeitserlass kann grundsätzlich auf sämtliche Steuerarten Anwendung finden, die nach Bundesrecht geregelt sind, solange die Voraussetzungen des § 227 AO vorliegen. Der Erlass kann auf die gesamte Steuerschuld oder auf einzelne Steuerfestsetzungen und -zeiträume beschränkt werden. Auch Nebenleistungen (wie Zinsen und Säumniszuschläge) können im Billigkeitswege erlassen werden, soweit sie von der Unbilligkeit betroffen sind. Die genaue Reichweite des Erlasses legt das Finanzamt im Einzelfall entsprechend der tatsächlichen Gegebenheiten und der Billigkeitserwägungen fest.

Können Steuerpflichtige einen Rechtsanspruch auf einen Billigkeitserlass geltend machen?

Ein Rechtsanspruch auf einen Billigkeitserlass besteht nicht. Es handelt sich um eine Ermessensentscheidung der Finanzverwaltung, die nach pflichtgemäßem Ermessen (§ 5 AO) erfolgt. Der Steuerpflichtige kann lediglich einen Anspruch auf eine ermessensfehlerfreie Entscheidung geltend machen. Wird der Antrag auf Billigkeitserlass abgelehnt, kann der Steuerpflichtige Einspruch einlegen und erforderlichenfalls Klage beim Finanzgericht erheben. Gerichtlich überprüfbar ist allerdings nur, ob das Ermessen ordnungsgemäß ausgeübt wurde, nicht die inhaltliche Ablehnung selbst.

Welche Rechtsfolgen hat ein gewährter Billigkeitserlass für bereits gezahlte Steuern?

Wird ein Billigkeitserlass nach bereits erfolgter Zahlung der Steuer gewährt, entsteht ein Erstattungsanspruch zu Gunsten des Steuerpflichtigen nach § 37 Abs. 2 AO. Die zu viel gezahlte Steuer ist vom Finanzamt zu erstatten. Zudem können Zinsen nach § 233a AO zu Gunsten des Steuerpflichtigen anfallen, sofern die gesetzlichen Voraussetzungen vorliegen. Ein Erlass ist jedoch grundsätzlich auch nach Entrichtung der Steuer zulässig, soweit die Unbilligkeit im Zeitpunkt der Einziehung bestand.

Muss ein Antrag auf Billigkeitserlass begründet werden, und wie umfangreich fällt die Darlegungspflicht aus?

Ja, der Antrag auf Billigkeitserlass muss vom Steuerpflichtigen ausführlich und konkret begründet werden. Es besteht eine umfassende Mitwirkungspflicht (§ 90 AO). Insbesondere sind alle Tatsachen und Nachweise vorzulegen, die die außergewöhnliche Situation und die Unbilligkeit der Steuererhebung belegen (z.B. Einkommen, Ausgaben, Vermögen, außergewöhnliche Belastungen). Nur bei substantiierter Darlegung und Nachweis der Umstände kann eine Billigkeitsprüfung stattfinden. Unvollständige Anträge können vom Finanzamt abgelehnt werden oder führen zu einer Nachforderung weiterer Unterlagen.