Begriff und rechtliche Einordnung des Bescheidungsurteils
Das Bescheidungsurteil ist eine besondere Form der gerichtlichen Entscheidung im deutschen Verwaltungsprozessrecht. Es handelt sich dabei um ein Urteil, mit dem ein Gericht eine Behörde unter Aufhebung eines vorausgegangenen Verwaltungsakts oder einer ablehnenden Entscheidung dazu verpflichtet, über den Antrag einer antragstellenden Person unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu entscheiden. Das Bescheidungsurteil ist vor allem im Rahmen der Verpflichtungs- und Anfechtungsklage nach der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) von Bedeutung.
Bedeutung und Anwendungsbereiche
Verpflichtungsklage und Bescheidungsurteil
Das Bescheidungsurteil spielt eine zentrale Rolle bei der Verpflichtungsklage, insbesondere bei Fällen, in denen der Kläger die Erteilung eines Verwaltungsakts begehrt (sog. Vornahmeklage, § 42 Abs. 1 Alt. 2 VwGO). Ist die Behörde zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung nicht verpflichtet, dem Antrag des Klägers stattzugeben, weil ihr ein Ermessens- oder Beurteilungsspielraum zusteht, gibt das Verwaltungsgericht der Klage statt, indem es die Behörde verurteilt, über den Antrag unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu entscheiden (§ 113 Abs. 5 Satz 2 VwGO).
Unterschied zum Verpflichtungsurteil
Das Bescheidungsurteil unterscheidet sich grundlegend vom Verpflichtungsurteil. Während das Verpflichtungsurteil die Behörde direkt zur Vornahme einer bestimmten Amtshandlung (beispielsweise die Ausstellung eines beantragten Verwaltungsakts) verpflichtet, belässt das Bescheidungsurteil der Behörde aufgrund eines bestehenden Restermessens oder Beurteilungsspielraums die Möglichkeit, eine eigene Entscheidung unter Berücksichtigung der gerichtlichen Rechtsauffassung zu treffen. Das Gericht schränkt damit die Verwaltungskompetenz nicht über das rechtlich zulässige Maß hinaus ein.
Voraussetzungen für ein Bescheidungsurteil
Ermessen der Behörde
Ein Bescheidungsurteil setzt voraus, dass der Behörde ein Entscheidungsspielraum zusteht, der entweder auf Ermessen (§ 40 VwVfG) oder Beurteilungsspielräume zurückzuführen ist. Das Gericht prüft in solchen Fällen lediglich, ob die Ablehnung des Verwaltungsakts durch die Behörde rechtswidrig war und ob der Kläger einen Anspruch auf eine ermessensfehlerfreie Entscheidung hat.
Nicht bestehender gebundener Anspruch
Fehlt es an einem gebundenen Anspruch, das heißt, wenn das Gesetz der Behörde keine Pflicht zur bestimmten Handlung vorschreibt, sondern nur fordert, dass sie über das Begehren unter Ausübung des Ermessens entscheidet, ist ein Bescheidungsurteil zu erlassen.
Abgrenzung zu anderen Urteilsarten
- Verpflichtungsurteil: Wird erlassen, wenn ein Anspruch auf Erlass eines bestimmten Verwaltungsakts ohne Ermessenspielraum besteht.
- Bescheidungsurteil: Kommt zur Anwendung, wenn ein Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung über das beantragte Handeln besteht.
Rechtsfolge und Bindungswirkung
Bindung an die Rechtsauffassung des Gerichts
Die Hauptwirkung des Bescheidungsurteils liegt darin, dass die Behörde verpflichtet ist, das beantragte Verfahren unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts fortzuführen. Die Entscheidung ist damit hinsichtlich der rechtlichen Bewertung des Klagebegehrens verbindlich (§ 113 Abs. 5 Satz 2, § 121 VwGO).
Möglichkeiten der erneuten Ablehnung
Das Urteil verpflichtet die Verwaltung nicht zwingend zur positiven Bescheidung des Antrags. Die Behörde kann den Antrag bei fortbestehendem Ermessen oder Spielraum erneut ablehnen, sofern die erneute Ablehnung die gerichtlichen Vorgaben beachtet und keine neuen Ermessens- oder Beurteilungsfehler aufweist.
Verfahrensablauf und Umsetzung
Neuverfahren nach Bescheidungsurteil
Nach Erlass eines Bescheidungsurteils muss die Behörde das Verfahren fortführen und unter Beachtung der gerichtlichen Vorgaben neu entscheiden. Falls die Behörde dabei von einem Beurteilungsspielraum Gebrauch macht und den Antrag erneut ablehnt, können weitere Rechtsschutzmöglichkeiten gegeben sein, insbesondere neue Klagen oder Fortsetzungsfeststellungsklagen.
Zwangsvollstreckung / Erzwingung der Beachtung
Zur Erzwingung der Beachtung eines Bescheidungsurteils stehen im Verwaltungsprozessrecht Zwangsmittel zur Verfügung, etwa das Zwangsgeld gem. § 172 VwGO. Die Zwangsvollstreckung richtet sich gegen den Erlass eines Verwaltungsakts und kann daher eingeschränkt sein.
Bescheidungsurteil in anderen Verfahrensordnungen
Sozialgerichtsbarkeit
Auch die Sozialgerichtsbarkeit kennt das Rechtsinstitut des Bescheidungsurteils (§ 131 Abs. 5 SGG). Die Regelungen und Voraussetzungen entsprechen im Kern den Vorschriften der Verwaltungsgerichtsbarkeit.
Finanzgerichtsbarkeit
Im finanzgerichtlichen Verfahren (§ 101 FGO) besteht ebenfalls die Möglichkeit eines Bescheidungsurteils, sofern dem Finanzamt bei der Entscheidung Ermessen zusteht.
Literatur, Rechtsprechung und weiterführende Hinweise
- Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO), insbesondere §§ 42, 113, 121
- Sozialgerichtsgesetz (SGG), § 131
- Finanzgerichtsordnung (FGO), § 101
- BVerwG, Urteil vom 26.10.1971 – I C 12.71
Zusammenfassung
Das Bescheidungsurteil ist ein spezialisiertes Instrument im deutschen Verwaltungsprozessrecht, das die gerichtliche Kontrolle behördlichen Handelns in den Fällen sicherstellt, in denen ein Betroffener keinen unbedingten Anspruch auf eine behördliche Entscheidung hat, wohl aber auf eine erneute, rechtmäßige Entscheidung unter Berücksichtigung der gerichtlichen Rechtsauffassung. Es sichert damit den effektiven Rechtsschutz, ohne die Verwaltung in ihrer originären Entscheidungsfreiheit zu beschränken. Diese Urteilsform findet entsprechend ihren Vorbildern auch in anderen Prozessordnungen Anwendung.
Häufig gestellte Fragen
Welche Rechtsmittel stehen gegen ein Bescheidungsurteil zur Verfügung?
Gegen ein Bescheidungsurteil richtet sich in der Regel die Berufung, sofern die gesetzlichen Voraussetzungen dafür vorliegen. In Verwaltungsgerichtsverfahren, beispielsweise nach § 113 Abs. 5 Satz 2 VwGO, kann das Bescheidungsurteil vom Kläger wie auch – soweit der Beklagte beschwert ist – vom Beklagten mit der Berufung oder, abhängig vom jeweiligen Verfahrensrecht, gegebenenfalls auch mit der Revision angefochten werden. Die Zulässigkeit des Rechtsmittels bestimmt sich nach den jeweiligen Verfahrensordnungen (z. B. § 124 ff. VwGO, § 511 ff. ZPO, § 146 SGG). Dabei ist bei der Berufung insbesondere zu beachten, dass sie häufig der Zulassung bedarf, welche etwa dann vorausgesetzt wird, wenn die Beschwerde einen bestimmten Wert nicht übersteigt oder das Gericht des ersten Rechtszuges die Berufung zugelassen hat. Das Bescheidungsurteil wird in prozessualer Hinsicht genauso behandelt wie Gestaltungs- oder Leistungsurteile, das heißt, bei erfolgreichem Rechtsmittelverfahren kann sowohl eine Abänderung als auch eine Zurückverweisung an die Vorinstanz erfolgen, wenn Verfahrensmängel vorliegen. Das Rechtsmittelgericht prüft die Rechtmäßigkeit der Ablehnung der Verwaltung sowie die zutreffende Anwendung des materiellen Rechts durch das Ausgangsgericht.
Muss ein Bescheidungsurteil vollstreckt werden, und wenn ja, wie erfolgt die Vollstreckung?
Das Bescheidungsurteil verpflichtet die Verwaltung nicht zur Vornahme einer ganz bestimmten, dem Antrag des Klägers entsprechenden Amtshandlung, sondern dazu, über diesen Antrag unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu entscheiden. Die Vollstreckbarkeit des Bescheidungsurteils ist daher auf die erneute Entscheidung der Behörde beschränkt. Eine Vollstreckung im klassischen Sinne wie bei Leistungsurteilen ist nicht vorgesehen. Die Behörde ist gesetzlich verpflichtet, der im Bescheidungsurteil enthaltenen Bindungswirkung nachzukommen; diese Wirkung ist in § 113 Abs. 5 Satz 2 VwGO und den korrespondierenden Vorschriften der Fachgerichtsbarkeiten geregelt. Kommt die Behörde der gerichtlichen Bindungswirkung nicht nach, so hat der Kläger die Möglichkeit, ein erneutes Klageverfahren wegen Untätigkeit einzuleiten oder ggf. Zwangsgeldverfahren nach § 172 VwGO zu beantragen.
Welche Bindungswirkung entfaltet ein Bescheidungsurteil gegenüber der Behörde?
Ein Bescheidungsurteil verpflichtet die Behörde, unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts über den begehrten Verwaltungsakt erneut zu entscheiden. Die Bindungswirkung umfasst sämtliche tatsächlichen und rechtlichen Erwägungen, die das Gericht in den Entscheidungsgründen seiner Urteilsbegründung dargelegt hat. Die Behörde darf im wiederaufgenommenen Verwaltungsverfahren nicht von der richterlichen Rechtsauslegung abweichen oder den Entscheidungsgegenstand in einer Weise umgestalten, die dem gerichtlichen Urteilsspruch zuwiderläuft. Allerdings besitzt sie weiterhin ein eigenes Ermessen im Rahmen der erneuten Entscheidung, soweit dieses durch das Urteil nicht eingeschränkt oder ausgeschlossen wurde. Das Gericht kann im Rahmen seiner Entscheidung insbesondere auch erkennen, dass das Ermessen auf Null reduziert ist, sodass nur noch eine bestimmte Entscheidung rechtmäßig ist („Ermessensreduzierung auf Null“).
Welche Unterschiede bestehen zwischen einem Bescheidungsurteil und einem Verpflichtungsurteil?
Ein Bescheidungsurteil spricht lediglich aus, dass die Behörde über den streitgegenständlichen Antrag unter Berücksichtigung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu entscheiden hat, während das Verpflichtungsurteil die Behörde unmittelbar dazu verpflichtet, einen bestimmten Verwaltungsakt zu erlassen (z. B. eine Genehmigung zu erteilen). Der maßgebliche Unterschied liegt darin, ob dem Kläger bereits ein Rechtsanspruch auf die begehrte Verwaltungsmaßnahme zusteht („Verpflichtungsurteil“) oder ob der Verwaltung noch ein Ermessen verbleibt, das sie rechtsfehlerfrei erneut ausüben muss („Bescheidungsurteil“). Die Folgen sind praktisch bedeutsam, insbesondere im Hinblick auf die Rechtskraftwirkung des Urteils sowie die weitere Verfahrensweise bei der Behörde.
Welche Auswirkungen hat ein Bescheidungsurteil auf das weitere Verwaltungsverfahren?
Nach Erlass eines Bescheidungsurteils ist das Verwaltungsverfahren wieder aufzugreifen. Die Behörde ist verpflichtet, das Verfahren fortzusetzen und unter Berücksichtigung der im Urteil niedergelegten Rechtsgrundsätze zu einem neuen Verwaltungsakt zu kommen. Die Entscheidung ist nicht inhaltlich vorgegeben, sofern kein Ermessensmissbrauch oder Ermessensausfall mehr möglich ist. Die Behörde darf deshalb weder auf formelle noch auf materielle Gründe, die bereits vom Gericht als unzutreffend erkannt wurden, erneut ihre Entscheidung stützen. Vielmehr ist sie gehalten, die dem Kläger zugestandenen Rechte zu berücksichtigen und – soweit möglich – dem Antrag in rechtmäßiger Weise entweder zu entsprechen oder diesen erneut mit einer neuen, nun rechtmäßigen Begründung abzulehnen. Das Verfahren wird mit einem neuen Verwaltungsakt abgeschlossen, der seinerseits wieder angefochten werden kann.
Kann ein Bescheidungsurteil auch zugunsten des Beklagten ergehen?
Ein Bescheidungsurteil kann auch dann ergehen, wenn die Klage zwar zulässig, aber nur insoweit begründet ist, als der Kläger einen Anspruch auf erneute Bescheidung, nicht aber einen Anspruch auf die konkrete Leistung hat. Insoweit ist das Bescheidungsurteil ein Kompromiss, bei dem einerseits die Interessen des Klägers beachtet werden, aber andererseits der Behörde eine erneute Entscheidung zusteht. Auch der Beklagte (in der Regel die Behörde) kann von einem Bescheidungsurteil profitieren, weil dieses es ihr ermöglicht, die Entscheidung unter Einbeziehung neuer Argumente oder veränderter rechtlicher Würdigung zu treffen, solange sie sich dabei an die gerichtlichen Vorgaben hält.
Welche Kostenfolge hat ein Bescheidungsurteil?
In einem durch Bescheidungsurteil abgeschlossenen Verfahren richtet sich die Kostenentscheidung nach den allgemeinen Regeln, insbesondere nach §§ 154 ff. Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) bzw. den entsprechenden Normen der Spezialgerichtsbarkeiten. Die obsiegende Partei erhält regelmäßig ihre Kosten ersetzt. In gemischten Fällen, das heißt, wenn der Kläger teils obsiegt (Anspruch auf Bescheidung), teils mit dem Hauptantrag unterliegt (kein Anspruch auf konkrete Leistung), findet eine Quotelung der Kosten statt, die sich nach dem Grad des Obsiegens beziehungsweise Unterliegens richtet. Erstattungsfähig sind grundsätzlich die notwendigen Kosten des Gerichts- und Verwaltungsverfahrens.