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Besatzungsrecht


Begriff und historische Entwicklung des Besatzungsrechts

Das Besatzungsrecht bezeichnet das Rechtssystem, welches von einer oder mehreren ausländischen staatlichen Mächten in einem besetzten Gebiet aufgrund tatsächlicher Kontrolle über dieses Territorium ausgeübt wird. Es entsteht regelmäßig im Rahmen internationaler Konflikte oder Kriege, sobald eine ausländische Macht die Kontrolle über das Gebiet übernimmt und anstelle oder neben der bestehenden staatlichen Ordnung Regelungen erlässt. Das Besatzungsrecht umfasst neben Regelungen zur öffentlichen Ordnung auch Maßnahmen betreffend Verwaltung, Wirtschaft, Strafverfolgung sowie Grundrechte der Bevölkerung im besetzten Gebiet.

Historisch ist das Besatzungsrecht insbesondere mit der deutschen Geschichte nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs verbunden, als Deutschland unter die Kontrolle der Alliierten Mächte (USA, Großbritannien, Frankreich, Sowjetunion) geraten ist. Darüber hinaus ist das Besatzungsrecht aber auch völkerrechtlich begründet und international anerkannt.

Völkerrechtliche Grundlagen des Besatzungsrechts

Haager Landkriegsordnung

Die wesentlichen völkerrechtlichen Grundlagen des Besatzungsrechts finden sich in der Haager Landkriegsordnung von 1907 (HLKO), insbesondere in den Artikeln 42 bis 56. Hier wird die militärische Besetzung als eine Situation beschrieben, in der eine fremde Macht ein Gebiet tatsächlich beherrscht, ohne dass dadurch dessen völkerrechtlicher Status verändert würde. Die bisherige Staatsgewalt wird durch die der Besatzungsmacht ersetzt.

Gemäß Artikel 43 HLKO ist die Besatzungsmacht verpflichtet, die bestehenden Gesetze und Verwaltung soweit wie möglich aufrechtzuerhalten, wobei sie für die öffentliche Ordnung und Sicherheit sorgen muss.

Genfer Konventionen von 1949

Weitere zentrale völkerrechtliche Regelungen ergeben sich aus den Genfer Konventionen von 1949, insbesondere der Vierten Genfer Konvention zum Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten. Sie konkretisieren die Rechte der Zivilbevölkerung im besetzten Gebiet und regeln Fragen wie Versorgung, Schutz vor willkürlicher Behandlung, wirtschaftlichen Versorgung und rechtliche Garantien gegenüber Maßnahmen der Besatzungsmacht.

Struktur und Inhalte des Besatzungsrechts

Grundsatz der faktischen Herrschaft

Voraussetzung der Anwendung des Besatzungsrechts ist die tatsächliche Kontrolle („faktische Herrschaft“) des Gebietes durch eine fremde Macht. Diese muss hinreichend beständig und dauerhaft sein, sodass die besetzte Staatsregierung ihre Kontrollmöglichkeiten verloren hat.

Rechtssetzung der Besatzungsmächte

Besatzungsmächte sind befugt, durch Verordnungen, Anordnungen und Verwaltungsakte Rechtsnormen zu erlassen, zu ändern oder außer Kraft zu setzen. Die besetzten Gebiete werden folglich durch das Recht der Besatzungsmacht geregelt, das im Rahmen völkerrechtlicher Vorgaben zu erfolgen hat.

Im deutschen Kontext wurden während der alliierten Besatzung Deutschlands nach 1945 zahlreiche Kontrollratsgesetze, -verordnungen und Anordnungen erlassen, die tiefgreifende Veränderungen für die Rechts- und Eigentumsordnung sowie das gesellschaftliche Leben nach sich zogen.

Verhältnis zu bestehendem nationalen Recht

Nach völkerrechtlichem Grundsatz bleibt das nationale Recht des besetzten Staates grundsätzlich bestehen, soweit es nicht durch aktuelles Besatzungsrecht aufgehoben, geändert oder suspendiert wird. Das bestehende Recht wird insoweit fortgeführt, wie es nicht im Widerspruch zu den Zielen und Anordnungen der Besatzungsmacht steht.

Grenzen der Besatzungshoheit

Die Handlungsmöglichkeiten der Besatzungsmacht werden durch das Völkerrecht, insbesondere durch das Prinzip der Rechtskontinuität, die Vorschriften der Haager Landkriegsordnung und der Genfer Konventionen, beschränkt. So sind unter anderem Enteignungen, Zwangsarbeit, Deportationen und die Veränderung grundlegender Verfassungsstrukturen, soweit nicht zur Wahrung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit notwendig, unzulässig.

Besatzungsrecht in Deutschland nach 1945

Grundlagen der Alliierten Besatzung

Nach der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands im Mai 1945 wurde hinsichtlich des gesamten deutschen Staatsgebiets das Besatzungsrecht der vier Alliierten eingeführt. Die Militärregierung kontrastierte mit der vollständigen Aufhebung der zentralen Staatsorgane des Deutschen Reiches. Das alliierte Besatzungsrecht trat an die Stelle der souveränen deutschen Staatsgewalt.

Kontrollrat, Zonen und Gesetzgebung

In Deutschland wurde das Recht der Alliierten durch den Alliierten Kontrollrat beziehungsweise durch die jeweiligen Militärregierungen jeder Besatzungszone (amerikanische, britische, französische, sowjetische) ausgeübt. Der Kontrollrat erließ zentrale Normen, sogenannte Kontrollratsgesetze und -befehle. Nach der Auflösung des Kontrollrats entwickelte sich in den jeweiligen Zonen eigenständiges Besatzungsrecht.

Beispiele für Regelungsgebiete

Das Besatzungsrecht in Deutschland betraf insbesondere:

  • Strafrecht: Strafverfolgung nationalsozialistischer Gewalttaten, Kriegsverbrechergesetze
  • Wiedergutmachung, Vermögensentziehungen: Entnazifizierung, Rückerstattung, Enteignung von NS-Vermögen
  • Demokratisierung: Neuordnung des Schulwesens, des Parteiensystems und Verwaltung
  • Grundrechte: Einschränkung und Kontrolle von Grundfreiheiten zugunsten der Besatzungsinteressen

Übergang in das deutsche Rechtssystem

Mit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland (1949) und der DDR und der Übertragung der Hoheitsrechte an die deutschen Stellen ging das alliierten Besatzungsrecht teils in nationales Recht über, teils wurde es außer Kraft gesetzt. Einzelne alliierten Normen behielten noch lange nach Gründung der Bundesrepublik und der Wiedervereinigung fortwirkende Gültigkeit, solange sie nicht explizit aufgehoben wurden („Fortwirkung“).

Rechtswirkungen und heutige Bedeutung des Besatzungsrechts

Fortgeltung und Nachwirkung

Auch nach Wiedererlangung der Souveränität der betroffenen Staaten können Regelungen des Besatzungsrechts dauerhaft fortgelten, sofern sie in das nationale Recht transformiert wurden oder sich Rechte oder Ansprüche aus ihnen ableiten („Besatzungsrecht im deutschen Recht“). Ein Beispiel ist das Rückerstattungsrecht im Zusammenhang mit Enteignungen während der Besatzungszeit.

Ende des Besatzungsrechts in Deutschland

Mit Inkrafttreten des Zwei-plus-Vier-Vertrags („Vertrag über die abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland“) am 15. März 1991 und der Wiedervereinigung Deutschlands wurden die verbliebenen alliierten Vorbehaltsrechte aufgehoben und das Besatzungsrecht im völkerrechtlichen Sinne beendet. Nur noch solche Normen, die in das fortgeltende deutsche Recht übernommen wurden, haben rechtliche Wirkung.

Abgrenzung zu verwandten Rechtsbegriffen

Das Besatzungsrecht ist zu unterscheiden von:

  • Kriegsrecht: Regelungen während bewaffneter Konflikte, bevor oder ohne eine Besetzung
  • Militärregierung: Institution, welche das Besatzungsrecht exekutiert, nicht jedoch das Recht an sich
  • Verwaltungsrechtlicher Ausnahmezustand: Nationalstaatlich geregelte Not- und Ausnahmezustände im Unterschied zur internationalen Besatzungsrechtssituation

Zusammenfassung

Das Besatzungsrecht regelt umfassend die Rechtslage in von ausländischen Mächten besetzten Gebieten und wird durch völkerrechtliche Abkommen wie die Haager Landkriegsordnung und die Genfer Konventionen geprägt. Seine Bedeutung lag insbesondere in den Phasen nach militärischen Konflikten und ist historisch im Kontext der deutschen Nachkriegsgeschichte von enormer Relevanz. Mit Wiedererlangung der Souveränität nationalsstaatlicher Institutionen verliert das Besatzungsrecht seine Geltung, wirkt jedoch durch übernommene Normen und Rechtsinstitute weiter fort.


Literaturhinweis:

  • Haager Landkriegsordnung von 1907
  • Genfer Konventionen von 1949
  • Kontrollratsgesetz Nr. 1, 22. September 1945
  • Vertrag über die abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland (Zwei-plus-Vier-Vertrag) 1990

Häufig gestellte Fragen

In welchem Zeitraum galt das Besatzungsrecht in Deutschland und wie wurde es rechtlich implementiert?

Das Besatzungsrecht in Deutschland trat unmittelbar nach der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht am 8. Mai 1945 in Kraft. Es wurde von den vier alliierten Siegermächten (USA, Großbritannien, Frankreich und UdSSR) durch verschiedene Proklamationen, Proklamationen, Direktiven und Kontrollratsgesetze ausgeübt und stützte sich insbesondere auf das Völkerrecht, darunter insbesondere das Haager Landkriegsreglement von 1907 und die Genfer Konventionen. Die rechtliche Basis bildete die völlige Aufhebung der staatlichen Souveränität Deutschlands, sodass die Alliierten umfassende legislative, exekutive und judikative Befugnisse erhielten. Besatzungsrecht galt in Westdeutschland formell bis zur Verkündung des Deutschlandvertrags am 5. Mai 1955, welcher mit dem Inkrafttreten die weitgehende Souveränität der Bundesrepublik Deutschland wiederherstellte. In der DDR endete das Besatzungsrecht juristisch erst mit dem Zwei-plus-Vier-Vertrag im Jahr 1990, der die völkerrechtlichen Rahmenbedingungen für die Wiedervereinigung schuf.

Welche zentralen Regelungen oder Gesetze wurden unter dem Besatzungsrecht eingeführt?

Unter dem Besatzungsrecht erließen die Alliierten zahlreiche Kontrollratsgesetze, Direktiven und Verordnungen, die weitreichende Eingriffe in das öffentliche, strafrechtliche, wirtschaftliche und gesellschaftliche Leben Deutschlands bedeuteten. Zu den wichtigsten gesetzlichen Maßnahmen zählen vor allem das Kontrollratsgesetz Nr. 1 zur Aufhebung nationalsozialistischen Rechts, das Kontrollratsgesetz Nr. 10 zur Ahndung von Kriegsverbrechen, sowie verschiedene Gesetze zur Bodenreform, Entnazifizierung und Demokratisierung des deutschen Staatswesens. Außerdem wurden Bestimmungen zur Vermögensbeschlagnahme, Einrichtung neuer Verwaltungsstrukturen, zur Pressezensur und zum Verbot von Organisationen erlassen. Die alliierten Anordnungen waren kraft Besatzungsstatus vorrangig gegenüber deutschen Gesetzen und standen damit hierarchisch an oberster Stelle.

Wie wirkte sich das Besatzungsrecht auf die deutsche Justiz und Verwaltung aus?

Das Besatzungsrecht führte zu einer fast vollständigen Kontrolle der Exekutive und Judikative durch die Alliierten. Die bestehenden deutschen Verwaltungsbehörden blieben anfangs weitgehend erhalten, unterlagen jedoch dem Vorbehalt alliierter Weisungen. Schrittweise wurden belastete Beamte entfernt („Entnazifizierung“) und durch unverdächtige Personen ersetzt. Die Justiz wurde umfassend überprüft, teilweise neu organisiert und in vielen Bereichen – insbesondere bei Straftaten gegen alliierte Interessen – durch alliierte Militärgerichte ersetzt. Deutsche Gerichte erhielten erneut Kompetenzen ab 1946/47, dennoch blieben alliierte Anweisungen bindend und unanfechtbar. Auch politisch wurde das föderale System reorganisiert und die Grundlagen für spätere deutsche Bundesländer geschaffen.

Welche rechtlichen Folgen hatte das Fortbestehen oder Außerkrafttreten von Besatzungsrecht nach 1955 bzw. 1990?

Mit Inkrafttreten des Deutschlandvertrags am 5. Mai 1955 erlangte die Bundesrepublik Deutschland die weitgehende Souveränität zurück, dennoch behielten die Alliierten in bestimmten Fragen weiterhin Sonderrechte – beispielsweise im Bereich der inneren und äußeren Sicherheit sowie bei Fragen der Stationierung alliierter Truppen (Vorbehaltsrechte). Erst mit Unterzeichnung und Inkrafttreten des Zwei-plus-Vier-Vertrags zum 3. Oktober 1990 wurden sämtliche restlichen Besatzungsrechte aufgehoben und Deutschland erhielt seine vollständige völkerrechtliche Souveränität zurück. Die zuvor erlassenen alliierten Gesetze blieben jedoch teils als innerstaatliches Recht weiter bestehen, soweit sie nicht ausdrücklich aufgehoben wurden.

Gibt es noch heute Gesetze oder Rechtsfolgen, die auf Besatzungsrecht zurückgehen?

Bestimmte Rechtsakte, die in der Besatzungszeit erlassen wurden, wirken bis heute im deutschen Recht fort. Zahlreiche alliierten Verordnungen, insbesondere im Bereich der Entnazifizierung, Bodenreform, Wiedergutmachung und das sogenannte Kontrollratsgesetz Nr. 35 zur Aufhebung des Erbgesetzes, dienten als Grundlage späterer bundesdeutscher Gesetze und Verwaltungsverfahren. Viele von den Alliierten erlassenen Normen wurden nachträglich durch Bundesrecht übernommen, modifiziert oder aufgehoben. Die Grundlage für heutige Eigentumsfragen, die Rehabilitierung von NS-Opfern oder das Parteienrecht knüpft zum Teil unmittelbar an Regelungen aus der Besatzungszeit an. Mit dem Wegfall des Besatzungsrechts wurden jedoch alle noch geltenden Vorschriften in das nationale Recht integriert oder aufgehoben, sodass völkerrechtlich kein Besatzungsrecht mehr besteht.

Wie wurde das Besatzungsrecht im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland berücksichtigt?

Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, das am 23. Mai 1949 erlassen wurde, entstand unter maßgeblicher Kontrolle und Freigabe der drei westlichen Besatzungsmächte. In Artikel 139 GG wurde explizit festgehalten, dass die zur „Befreiung des deutschen Volkes vom Nationalsozialismus und Militarismus“ erlassenen Maßnahmen der Alliierten auch nach Inkrafttreten des Grundgesetzes ihre Gültigkeit behalten. Dadurch wurden alliierte Gesetze und Vorgaben verfassungsrechtlich abgesichert und hatten Vorrang vor innerstaatlichem deutschen Recht. Erst mit der Souveränität 1955 und mit dem Zwei-plus-Vier-Vertrag 1990 verloren diese Regelungen ihre bindende Wirkung. Artikel 139 wird heute als obsolet betrachtet, hat aber formal keine Aufhebung erfahren.