Begriff und rechtliche Einordnung der Berufsgenossenschaften
Berufsgenossenschaften sind in Deutschland rechtsfähige Körperschaften des öffentlichen Rechts und Träger der gesetzlichen Unfallversicherung für Unternehmen und deren Beschäftigte. Sie bilden einen grundlegenden Pfeiler des Sozialversicherungssystems und unterliegen einer umfassenden gesetzlichen Regulierung. Berufsgenossenschaften übernehmen die zentrale Aufgabe, Arbeitsunfälle, Wegeunfälle sowie Berufskrankheiten zu verhüten, deren Folgen zu entschädigen und die Gesundheit und Leistungsfähigkeit der Versicherten wiederherzustellen.
Rechtsgrundlagen und Systematik
Gesetzliche Normierung
Die maßgeblichen Vorschriften zur Tätigkeit und Organisation der Berufsgenossenschaften finden sich im Sozialgesetzbuch (SGB) Siebtes Buch – Gesetzliche Unfallversicherung (SGB VII). Ergänzende Regelungen enthalten das Sozialgesetzbuch Viertes Buch (SGB IV) sowie das Sozialgerichtsgesetz (SGG), die Allgemeinen Vorschriften zum Verwaltungshandeln. Ferner gelten Satzungen, Unfallverhütungsvorschriften und weitere nachgeordnete Rechtsakte der jeweiligen Berufsgenossenschaft.
Stellung als Körperschaften des öffentlichen Rechts
Berufsgenossenschaften verfügen über Selbstverwaltungshoheit und repräsentieren die versicherten Unternehmen und Versicherten. Die Mitgliedschaft der Unternehmen ist gesetzlich vorgeschrieben und entsteht kraft Gesetzes mit Aufnahme gewerbsmäßiger Tätigkeit, sofern eine Unfallversicherungspflicht besteht.
Aufgaben und Leistungen der Berufsgenossenschaften
Prävention und Unfallverhütung
Eine der zentralen Aufgaben ist die Prävention von Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten. Berufsgenossenschaften erlassen für ihre Mitgliedsunternehmen verbindliche Unfallverhütungsvorschriften, beraten Unternehmen hinsichtlich Arbeitssicherheit und führen regelmäßige Sicherheitsprüfungen durch. Verstöße gegen präventive Maßnahmen können mit Auflagen und Bußgeldern sanktioniert werden.
Versicherungsschutz und Kreis der Versicherten
Versicherungspflicht und freiwillige Versicherung
Der gesetzliche Versicherungsschutz erstreckt sich auf Arbeitnehmende, Auszubildende, einige selbstständig Tätige sowie unter bestimmten Voraussetzungen auch auf arbeitnehmerähnliche Personen und ehrenamtlich Tätige. Die Mitgliedschaft der Unternehmen und der hieraus resultierende Versicherungsschutz beruhen auf § 2 SGB VII. Für bestimmte Personenkreise besteht die Möglichkeit einer freiwilligen Versicherung.
Umfang des Versicherungsschutzes
Der Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung umfasst Arbeitsunfälle, Wegeunfälle (zu und von der Arbeitsstätte) sowie anerkannte Berufskrankheiten. Im Schadensfall erfolgt eine Übernahme von Heilbehandlungskosten, Rehabilitation, Rentenzahlungen bei dauernder Minderung der Erwerbsfähigkeit, Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben sowie im Todesfall Leistungen an Hinterbliebene.
Entschädigungsleistungen und Rehabilitationsmaßnahmen
Zu den wichtigsten Leistungsarten der Berufsgenossenschaften zählen insbesondere:
- medizinische Rehabilitation: Übernahme sämtlicher Heilbehandlungskosten gemäß § 27 ff. SGB VII
- berufliche Rehabilitation: Maßnahmen zur Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit
- soziale Rehabilitation: Integrationsmaßnahmen und Unterstützung zur gesellschaftlichen Teilhabe
- Geldleistungen: Verletztengeld, Übergangsgeld, Verletztenrente, Hinterbliebenenrente
Die Höhe der Geldleistungen richtet sich nach der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) und dem erzielten Arbeitsentgelt vor Schadenseintritt.
Organisation und Verwaltung
Aufbau der Berufsgenossenschaften
Die Berufsgenossenschaften sind nach Branchen strukturiert und decken jeweils spezifische Wirtschaftszweige ab (z.B. Bau, Metall, Gesundheit und Wohlfahrtspflege). Sie unterstehen der Fachaufsicht des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales. Die Selbstverwaltung erfolgt durch Vertreterversammlungen und Vorstände aus den Reihen der Versicherten und Arbeitgeber.
Finanzierung
Die Finanzierung der Berufsgenossenschaften erfolgt primär durch Umlagen der Mitgliedsunternehmen (§ 26 ff. SGB IV). Die Höhe der Beiträge bemisst sich nach der Lohnsumme der Beschäftigten und dem Gefahrenrisiko des jeweiligen Wirtschaftszweigs.
Verfahren und Rechtsmittel
Verwaltungsverfahren
Leistungen der Berufsgenossenschaften werden durch Verwaltungsakte zugesprochen oder abgelehnt. Anspruchsinhaber können Anträge auf Leistungen stellen, über die die Verwaltung der Berufsgenossenschaft durch feststellenden oder bewilligenden Bescheid entscheidet.
Widerspruchs- und Klageverfahren
Gegen Bescheide kann innerhalb eines Monats Widerspruch eingelegt werden, der in einem verwaltungsinternen Vorverfahren geprüft wird. Ist der Widerspruch erfolglos, besteht die Möglichkeit der Klage vor dem Sozialgericht. Für Streitigkeiten sind die Sozialgerichte (§ 51 SGG) ausschließlich zuständig.
Aufsicht und Kontrolle
Berufsgenossenschaften unterliegen der Rechtsaufsicht durch das Bundesversicherungsamt beziehungsweise die für Arbeitsschutz zuständigen Stellen der Länder. Die gerichtliche Kontrolle wird durch die Sozialgerichtsbarkeit gewährleistet.
Historische Entwicklung und Bedeutung
Die Berufsgenossenschaften sind ein traditionsreicher Bestandteil des deutschen Sozialversicherungssystems. Sie wurden ursprünglich im Zuge der Bismarckschen Sozialgesetzgebung 1884 geschaffen und haben sich bis heute zu spezialisierten Versicherungsträgern mit erheblichem Einfluss auf den Arbeitsschutz entwickelt.
Relevanz im Arbeitsrecht und Sozialrecht
Ihre Leistungen und Entscheidungen prägen zahlreiche Bereiche des Arbeits- und Sozialrechts. Berufsgenossenschaften leisten einen wesentlichen Beitrag zur Wahrung von Sicherheit und Gesundheit am Arbeitsplatz sowie zur sozialen Absicherung von Beschäftigten und deren Angehörigen im Schadensfall.
Literaturhinweis: Die genaue Ausgestaltung der Aufgaben, Zuständigkeiten und Leistungen der Berufsgenossenschaften ist in den §§ 1 ff., 21 ff., 114 ff. SGB VII sowie in der jeweiligen Satzung und den Unfallverhütungsvorschriften der einzelnen Berufsgenossenschaften geregelt. Für weitergehende Detailfragen empfiehlt sich ein Blick in die einschlägigen Gesetzestexte und Veröffentlichungen der Unfallversicherungsträger.
Häufig gestellte Fragen
Was sind die gesetzlichen Grundlagen für die Zuständigkeit der Berufsgenossenschaften?
Die Zuständigkeit der Berufsgenossenschaften ergibt sich primär aus dem Siebten Buch Sozialgesetzbuch (SGB VII). Demnach sind Berufsgenossenschaften als Träger der gesetzlichen Unfallversicherung für Unternehmen und deren Beschäftigte zuständig. Die Einteilung erfolgt nach Gewerbezweigen gemäß § 121 SGB VII, wobei bestimmte Wirtschaftsbereiche jeweils einer bestimmten Berufsgenossenschaft zugeordnet werden. Die Betriebe sind gesetzlich verpflichtet, sich bei der zuständigen Berufsgenossenschaft anzumelden und Beiträge zu entrichten. Darüber hinaus regeln weitere Rechtsverordnungen und die Satzungen der einzelnen Berufsgenossenschaften nähere Einzelheiten über Aufnahme, Beitragspflicht, Leistungen und Meldepflichten. Es bestehen spezielle Vorschriften für landwirtschaftliche Unternehmen, freiberufliche Tätigkeiten und den öffentlichen Dienst, so dass beispielsweise für letztere die Unfallkassen zuständig sein können.
Welche Pflichten haben Unternehmen gegenüber der Berufsgenossenschaft?
Unternehmen unterliegen nach § 192 SGB VII der Pflicht, sich unverzüglich bei der zuständigen Berufsgenossenschaft anzumelden, sobald sie Beschäftigte einstellen, unabhängig davon, ob es sich um Vollzeit-, Teilzeit- oder geringfügig Beschäftigte handelt. Zu den wesentlichen Pflichten zählt weiterhin die regelmäßige Abgabe der sogenannten Lohnnachweise, anhand derer der Beitrag zur Berufsgenossenschaft berechnet wird (§ 165 ff. SGB VII). Unternehmen trifft ferner eine Meldepflicht bei Arbeits- und Wegeunfällen ab einer bestimmten Ausfallzeit (§ 193 SGB VII). Darüber hinaus müssen sie die im jeweiligen Gewerbezweig geltenden Unfallverhütungsvorschriften einhalten und Gefährdungsbeurteilungen durchführen, um den Schutz der Beschäftigten zu gewährleisten. Bei Zuwiderhandlungen drohen Bußgelder oder strafrechtliche Konsequenzen.
Welche Rechte und Ansprüche haben Versicherte im Falle eines Arbeits- oder Wegeunfalls?
Versicherte sind nach Eintritt eines Arbeitsunfalls oder einer Berufskrankheit nach § 2 SGB VII dazu berechtigt, Leistungen von der Berufsgenossenschaft zu erhalten. Das Leistungsspektrum umfasst die Heilbehandlung, Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben und am Leben in der Gemeinschaft, Verletztengeld als Ersatz des entgangenen Erwerbseinkommens sowie gegebenenfalls Unfallrenten bei dauerhaften gesundheitlichen Einschränkungen. Die Berufsgenossenschaft übernimmt alle notwendigen Kosten für die medizinische Rehabilitation und, falls erforderlich, Umschulungs- oder Integrationsmaßnahmen. Im Todesfall haben Hinterbliebene Anspruch auf Rentenleistungen und Überführungskosten. Grundlage für sämtliche Leistungen bildet eine Anerkennung des Unfall- oder Berufskrankheitsfalls durch die Berufsgenossenschaft, die über Prüfverfahren und medizinische Gutachten erfolgt.
Was gilt hinsichtlich des Versicherungsschutzes für Selbstständige und freie Mitarbeiter?
Für Selbstständige und freie Mitarbeiter besteht im Gegensatz zu abhängig Beschäftigten keine automatische Pflichtversicherung nach SGB VII. Sie können sich jedoch freiwillig bei der zuständigen Berufsgenossenschaft gegen die Folgen von Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten versichern (§ 6 Abs. 1 SGB VII). In einigen Branchen ist die Versicherung für bestimmte selbstständige Berufsgruppen sogar gesetzlich vorgeschrieben, beispielsweise im Baugewerbe oder in der Land- und Forstwirtschaft. Die Teilnahme am freiwilligen Versicherungsmodell erfordert einen schriftlichen Antrag und ist mit einer Beitragszahlung verbunden, die sich nach dem versicherten Einkommen richtet. Für freie Mitarbeiter im Rahmen von arbeitnehmerähnlichen Tätigkeiten prüft die Berufsgenossenschaft im Einzelfall die Versicherungspflicht anhand der tatsächlichen Ausgestaltung des Arbeitsverhältnisses.
In welchen Fällen kann die Berufsgenossenschaft Regress oder Rückforderungen geltend machen?
Die Berufsgenossenschaft ist befugt, Regress- oder Rückforderungsansprüche geltend zu machen, wenn Dritte für den Versicherungsfall (z. B. Arbeitsunfall) verantwortlich sind oder ein Unternehmen grob fahrlässig oder vorsätzlich gegen Arbeitsschutzbestimmungen verstoßen hat (§ 110 SGB VII). Im Falle einer schuldhaften Verletzung der Pflichten durch den Arbeitgeber, etwa bei Missachtung von Unfallverhütungsvorschriften oder unterlassener Anmeldung, kann die Berufsgenossenschaft die ihr entstandenen Aufwendungen vom Unternehmen ganz oder teilweise zurückfordern. Gleiches gilt, wenn Versicherte ihre Mitwirkungspflichten verletzen oder unberechtigt Leistungen beziehen. Die rechtliche Prüfung erfolgt jeweils nach Maßgabe der einschlägigen Vorschriften im Verwaltungsverfahren und kann im Streitfall über die Sozialgerichte überprüft werden.
Wie erfolgt die Beitragserhebung und -bemessung durch Berufsgenossenschaften?
Die Beitragserhebung richtet sich nach § 157 SGB VII und den jeweiligen Satzungen der Berufsgenossenschaften. Beiträge werden zur vollständigen Deckung des Finanzbedarfs im Umlageverfahren erhoben, das heißt, es gibt im Gegensatz zur Renten- oder Krankenversicherung keinen festen Prozentsatz vom Lohn. Die Höhe bemisst sich grundsätzlich nach der Lohnsumme des Unternehmens und der Gefahrenklasse, die auf Basis des Unfall- und Berufskrankheitengeschehens für die jeweilige Branche jährlich neu festgelegt wird. Betriebe sind verpflichtet, die erforderlichen Daten regelmäßig elektronisch an die BG zu melden. Sonderregelungen gelten für geringfügig Beschäftigte sowie für bestimmte Berufsgruppen. Die korrekte Beitragserhebung unterliegt der Prüfung durch die Berufsgenossenschaft und gegebenenfalls der Sozialversicherungsträger. Rechtsmittel gegen Beitragsbescheide sind im Wege des Widerspruchs- und Klageverfahrens vor den Sozialgerichten möglich.
Welche rechtlichen Möglichkeiten gibt es gegen Entscheidungen der Berufsgenossenschaften?
Gegen Verwaltungsakte und Entscheidungen der Berufsgenossenschaft steht Betroffenen grundsätzlich der Rechtsweg der Sozialgerichtsbarkeit offen. Zunächst kann innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe des Bescheides Widerspruch bei der jeweiligen Berufsgenossenschaft eingelegt werden (§ 84 SGG). Wird dem Widerspruch nicht abgeholfen, ergeht ein Widerspruchsbescheid, gegen den innerhalb eines weiteren Monats Klage beim Sozialgericht erhoben werden kann (§ 87 SGG). Das Verfahren ist gerichtskostenfrei und es besteht kein Anwaltszwang in der ersten Instanz. In Streitfällen wird insbesondere geprüft, ob die Berufsgenossenschaft die gesetzlichen Vorgaben des SGB VII eingehalten hat, beispielsweise bei der Anerkennung eines Arbeitsunfalls, der Ablehnung von Leistungen oder bei Beitragsbescheiden. Auch einstweiliger Rechtsschutz (z.B. im Falle aufschiebender Wirkung) kann beantragt werden.