Legal Lexikon

Augenschein


Begriff und rechtliche Bedeutung des Augenscheins

Der Begriff Augenschein bezeichnet im rechtlichen Kontext eine unmittelbare Wahrnehmung und Untersuchung von Gegenständen, Örtlichkeiten, Personen oder Situationen durch das Gericht beziehungsweise andere Verfahrensbeteiligte, um sich einen eigenen Eindruck über für das Verfahren relevante Tatsachen zu verschaffen. Der Augenschein gilt als klassisches Beweismittel im Zivilprozessrecht, Strafprozessrecht sowie im Verwaltungsverfahren und ist von fundamentaler Bedeutung für die gerichtliche Tatsachenermittlung.

Historische Entwicklung des Augenscheins

Die Augenscheinnahme als gerichtliche Beweisform hat eine lange Tradition. Bereits in der römischen Rechtsgeschichte war die persönliche Wahrnehmung durch den Richter verbreitet. Im Laufe der Entwicklung der modernen Rechtsprechung wurde der Augenschein als selbstständiges Beweismittel kodifiziert und systematisch im Verfahrensrecht verankert.

Augenschein im deutschen Rechtssystem

Allgemeine Definition und Systematik

Im deutschen Beweisrecht wird der Augenschein neben anderen Beweismitteln wie Zeugen, Urkunden und Sachverständigen als zentrales Verfahren zur richterlichen Überprüfung von Tatsachen eingesetzt. Die rechtlichen Grundlagen finden sich insbesondere in der Zivilprozessordnung (ZPO), der Strafprozessordnung (StPO) sowie den jeweiligen Verwaltungsprozessordnungen.

Gesetzliche Grundlagen

Zivilprozessrecht

Nach § 371 ZPO ist der Augenschein ein zulässiges Beweismittel, das dem Gericht erlaubt, Dinge, körperliche Zustände, Örtlichkeiten oder Vorgänge durch unmittelbare Sinneswahrnehmung zur Erkennung des Sachverhalts heranzuziehen. Dies kann sowohl innerhalb als auch außerhalb des Gerichtssaals erfolgen.

Strafprozessrecht

§ 86 StPO regelt die Beweisaufnahme durch Augenschein im strafrechtlichen Ermittlungs- und Hauptverfahren. Hierbei hat das Gericht oder die Ermittlungsbehörde die Möglichkeit, durch persönliche Inaugenscheinnahme Beweistatsachen aus nächster Nähe zu überprüfen, beispielsweise Tatorte zu besichtigen oder Gegenstände zu untersuchen.

Verwaltungsverfahren

Auch im Verwaltungsprozess ist der Augenschein als Beweismittel nach § 98 VwGO zulässig. Die Verfahrensordnung ermöglicht dabei, Tatsachenfragen durch persönliche Besichtigung und unmittelbare Wahrnehmung aufzuklären.

Formen des Augenscheins

Der Augenschein kann in verschiedenen Formen erfolgen, darunter:

  • Örtlicher Augenschein: Besichtigung von Orten, Bauwerken oder Landschaften, beispielsweise zur Klärung von Grenzstreitigkeiten.
  • Gegenständlicher Augenschein: Untersuchung von beweglichen oder unbeweglichen Objekten wie Werkzeugen, Kleidungsstücken oder Fahrzeuginnenräumen.
  • Augenschein an Personen: In Einzelfällen wird der körperliche Zustand von Personen überprüft, etwa bei Verletzungsspuren.
  • Fotografischer und video-basierter Augenschein: Die Betrachtung von Fotos, Video- oder Tonaufnahmen kann als „mittelbarer Augenschein“ herangezogen werden.

Ablauf und Durchführung der Augenscheinnahme

Anordnung und Vorbereitung

Die Anordnung eines Augenscheins erfolgt in der Regel durch einen Beschluss des Gerichts, meist auf Antrag einer Partei, selten von Amts wegen. Der Beschluss enthält Angaben zu Ort, Zeit sowie Gegenstand der Beweiserhebung. Beteiligte im Verfahren, etwa Parteien oder rechtsfähige Dritte, werden rechtzeitig geladen und erhalten Gelegenheit zur Teilnahme.

Durchführung

Während der Augenscheinnahme nimmt das Gericht (gegebenenfalls gemeinsam mit Beisitzern oder dem Protokollführer) die zu untersuchenden Gegenstände, Orte oder Personen in Augenschein. Die Beobachtungen werden protokolliert, oftmals auch durch Skizzen, Fotografien oder Videoaufzeichnungen ergänzt. Falls erforderlich, wird ein Sachverständiger hinzugezogen, um bestimmte Aspekte zu erläutern oder zu bewerten.

Protokollierung und Dokumentation

Die wesentlichen Feststellungen der Augenscheinnahme werden schriftlich im Protokoll festgehalten. Dabei sind der Ablauf, die Anwesenheit der Beteiligten, die wahrgenommenen Tatsachen sowie wesentliche Äußerungen zu dokumentieren. Die Protokollierung dient der Transparenz und Nachvollziehbarkeit des Beweisergebnisses sowie als Grundlage für spätere rechtliche Bewertungen.

Rechtliche Bedeutung und Beweiswert

Der Augenschein ist ein unmittelbares Beweismittel, dessen Beweiswert maßgeblich von der Unmittelbarkeit der Wahrnehmung und dem objektiven Eindruck des Gerichts abhängt. Im Rahmen der freien Beweiswürdigung nach § 286 ZPO legt das Gericht den Beweiswert der Augenscheinswahrnehmung unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls fest. Dabei kann der Augenschein allein oder im Zusammenspiel mit weiteren Beweismitteln zur Überzeugungsbildung beitragen.

Besonderheiten und Abgrenzung zu anderen Beweismitteln

Verhältnis zu Sachverständigenbeweis

Häufig wird der Augenschein durch die sachverständige Begutachtung ergänzt; dies gilt insbesondere, wenn spezielle Fachkenntnisse zur Beurteilung der beobachteten Tatsachen erforderlich sind. In solchen Fällen tritt der Sachverständige als „Beistand“ zur Augenscheinnahme hinzu und erläutert seine Beobachtungen dem Gericht.

Abgrenzung zum Urkundsbeweis

Der Augenschein unterscheidet sich vom Urkundsbeweis dadurch, dass nicht schriftliche Dokumente untersucht, sondern reale, sinnlich wahrnehmbare Gegenstände oder Situationen betrachtet werden.

Augenschein in internationalen Rechtssystemen

Auch in anderen Rechtssystemen, insbesondere im europäischen und angloamerikanischen Raum, ist die Augenscheinnahme Bestandteil der gerichtlichen Tatsachenfeststellung. Vergleichbare Institute existieren beispielsweise im französischen Recht als „constat“ oder im britischen Recht als „view“.

Probleme und Herausforderungen bei der Beweisaufnahme durch Augenschein

Zu den praktischen Herausforderungen zählen Beeinträchtigungen der Beweisführung durch zwischenzeitliche Veränderungen des Gegenstandes, Schwierigkeiten bei der Dokumentation, oder die objektive Wahrnehmungsfähigkeit der Gerichtspersonen. Die gerichtliche Kontrolle der Beweisaufnahme, der Schutz der Rechte der Beteiligten und die ordnungsgemäße Protokollierung sind daher von besonderer Bedeutung.

Fazit

Der Augenschein ist ein essentielles Instrument der Tatsachenfeststellung im deutschen Verfahrensrecht. Durch die unmittelbare sinnliche Wahrnehmung wird das Gericht in die Lage versetzt, sachgerechte und objektive Entscheidungen zu treffen. Die genaue Durchführung und umfassende Dokumentation der Augenscheinnahme sichern die Qualität und Nachvollziehbarkeit der gerichtlichen Wahrheitsfindung und unterstreichen die Bedeutung des Augenscheins als unverzichtbares Beweismittel.


Dieser Artikel bietet eine umfassende Übersicht zum rechtlichen Begriff des Augenscheins, dessen Bedeutung, Durchführung und jeweilige Besonderheiten in verschiedenen Rechtsgebieten.

Häufig gestellte Fragen

Wann wird im rechtlichen Kontext ein Augenschein angeordnet?

Ein Augenschein wird im rechtlichen Kontext immer dann angeordnet, wenn sich das Gericht oder eine Behörde durch eigene sinnliche Wahrnehmung – also durch Sehen, Hören, Fühlen, Riechen oder Schmecken – ein unmittelbares Bild von Tatsachen verschaffen muss, die für die Entscheidung des Rechtsstreits oder des Verwaltungsverfahrens erheblich sind. Dies geschieht besonders dann, wenn Dokumente, Zeugenaussagen oder Sachverständigengutachten allein keine ausreichende Klarheit über den tatsächlich vorliegenden Zustand, den Verlauf von Ereignissen oder die Bewertung von Sachverhalten verschaffen können. Typische Beispiele für die Anordnung eines Augenscheins sind die Begutachtung von Unfallstellen, die Besichtigung von Bauwerken, Grundstücken, technischen Anlagen oder verletzten Körperteilen. Die Anordnung erfolgt in der Regel durch Beschluss des Gerichts und ist ein Beweismittel im Sinne der Zivilprozessordnung (§ 371 ZPO), der Strafprozessordnung (§ 86 StPO) oder der Verwaltungsgerichtsordnung (§ 98 VwGO). Der Augenschein kann auch im Zusammenhang mit der Befragung von Zeugen oder Sachverständigen erfolgen, etwa wenn deren Aussagen durch die Inaugenscheinnahme überprüft oder ergänzt werden sollen.

Welche Parteien dürfen beim Augenschein anwesend sein und welche Rechte haben sie?

Grundsätzlich sind sowohl die Parteien des Verfahrens als auch ihre Vertreter bzw. Rechtsanwälte berechtigt, dem Augenschein beizuwohnen. Ziel dieser Anwesenheit ist es, Transparenz zu gewährleisten und den Parteien die Möglichkeit zu geben, Anträge zu stellen, sich zu äußern oder den Augenscheinsvorgang etwa durch Einwendungen, Fragen oder Hinweise zu beeinflussen. Zudem können Sachverständige, Zeugen, Dolmetscher und ggf. weitere vom Gericht geladene Personen (z. B. Bauleiter oder Eigentümer betroffener Objekte) anwesend sein. Die Parteien haben unter anderem das Recht, auf bestimmte Untersuchungsmethoden hinzuweisen, bestimmte Aspekte in den Fokus zu rücken und deren Protokollierung zu beantragen. Die Anwesenheitspflicht von Parteien kann in bestimmten Fällen auch durch tatsächliche Hindernisse eingeschränkt sein; in solchen Fällen kann das Gericht für deren Interessen Sorge tragen, etwa durch die Beiziehung von Vertretern oder die Möglichkeit zur späteren Stellungnahme anhand des Protokolls.

In welcher Form wird der Augenschein dokumentiert und welche Anforderungen bestehen an das Protokoll?

Die Ergebnisse des Augenscheins werden durch das Gericht oder die Behörde in einem schriftlichen Protokoll dokumentiert, das den wesentlichen Ablauf, die Wahrnehmungen, ggf. verwendete Hilfsmittel sowie alle von den Parteien oder Beteiligten gestellten Anträge und Anmerkungen enthält. Moderne Verfahrensordnungen erlauben zudem die Anfertigung von Skizzen, Fotografien, Videos oder Tonaufnahmen als ergänzende Beweismittel. Die Dokumentation muss so detailliert und nachvollziehbar sein, dass auch ein im Verfahren nicht anwesender Richter oder ein Rechtsmittelgericht die tatsächlichen Feststellungen und den Ablauf des Augenscheins inhaltlich voll nachvollziehen kann. Dies umfasst auch die genaue Bezeichnung des Ortes und Zeitpunkts, die Darstellung der Umstände und ggf. die Erwähnung der Wetterverhältnisse, Lichtverhältnisse oder anderer für die Wahrnehmung relevanter Faktoren. Fehler bei der Protokollierung können zur Unverwertbarkeit und zu Beweismittelverlust führen.

Kann gegen die Anordnung oder die Durchführung eines Augenscheins Rechtsmittel eingelegt werden?

Die unmittelbare Anordnung eines Augenscheins stellt in der Regel einen prozessleitenden Beschluss dar, gegen den kein eigenständiges Rechtsmittel vorgesehen ist. Einwendungen gegen die Anordnung oder die Art und Weise der Durchführung können jedoch im laufenden Verfahren geltend gemacht werden, etwa durch Anträge auf Konkretisierung des Untersuchungsumfangs oder durch Rügen von Verfahrensfehlern (z. B. mangelhafte Protokollierung, Verletzung des rechtlichen Gehörs, Ausschluss einer Partei o. Ä.). Solche Rügen müssen so früh wie möglich erhoben werden, da sie später im Instanzenzug – etwa im Rahmen der Berufung oder Revision – nur bedingt oder gar nicht mehr berücksichtigt werden können. Substantielle Fehler im Zusammenhang mit dem Augenschein können gegebenenfalls zu Beweisverwertungsverboten oder einer Aufhebung und Zurückverweisung führen.

Welche Rolle spielen Sachverständige beim Augenschein?

Sachverständige können beim Augenschein eine zentrale Rolle einnehmen, insbesondere wenn zur sachkundigen Beurteilung der in Augenschein genommenen Gegenstände, Zustände oder Vorgänge spezielle Kenntnisse erforderlich sind, über die das Gericht nicht von Amts wegen verfügt. Das Gericht kann einen Sachverständigen beauftragen, den Augenschein gemeinsam mit dem Gericht durchzuführen und seine Fachkenntnisse bei der Wahrnehmung und Bewertung einzubringen. Der Sachverständige kann zum Beispiel bestimmte Messungen durchführen, Proben entnehmen oder die relevanten Beobachtungen erläutern, die dann in einem Gutachten niedergelegt werden. Die Verknüpfung von Augenschein und Sachverständigenbeweis ist insbesondere im Bau-, Verkehrs-, Medizin- und Technikrecht häufig. Die Parteien können in einem solchen Fall Fragen an den Sachverständigen richten oder Einwendungen gegen dessen Methodik oder Erkenntnisse vortragen.

Gibt es besondere Formerfordernisse oder Fristen bei der Durchführung des Augenscheins?

Für die Durchführung eines Augenscheins gelten die allgemeinen prozessualen Vorschriften; besondere Formerfordernisse können sich aus den jeweiligen Verfahrensordnungen (ZPO, StPO, VwGO usw.) ergeben. Grundsätzlich ist der Augenschein möglichst frühzeitig und regelmäßig im Rahmen der Beweisaufnahme vorzunehmen, sofern er von einer Partei beantragt oder vom Gericht für sachdienlich erachtet wird. Vorladung und Terminbekanntgabe sind für die Parteien und sonstigen Beteiligten verbindlich, entsprechende Fristen und Ladungszeiten müssen gewahrt werden. Insbesondere in Strafverfahren sind die Beteiligten rechtzeitig zu laden (§ 220 StPO). Bei Gefahr in Verzug kann der Augenschein auch unabhängig von einer formellen Ladung durchgeführt werden, um Beweisverlust zu verhindern (z. B. bei drohendem Verschwinden einer Spur oder Zerstörung eines Objekts). In solchen Fällen sind die Parteien nachträglich zu informieren und ggf. Stellungnahmerechte einzuräumen.