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Arbeitskampfrisiko


Begriff und rechtliche Einordnung des Arbeitskampfrisikos

Definition von Arbeitskampfrisiko

Das Arbeitskampfrisiko bezeichnet im deutschen Arbeitsrecht die Unsicherheit und das Risiko, das im Rahmen von Arbeitskämpfen – insbesondere bei Streik und Aussperrung – für die Arbeitsvertragsparteien besteht. Es beschreibt insbesondere die Frage, wer die wirtschaftlichen Nachteile trägt, die durch die Arbeitskampfmaßnahmen entstehen, und wie diese Risiken rechtlich zugeordnet werden. Das Arbeitskampfrisiko umfasst sowohl die Beeinträchtigung der Arbeitsleistung als auch wirtschaftliche Einbußen, die durch kollektive Maßnahmen der Arbeitnehmer- oder Arbeitgeberseite verursacht werden.

Historische Entwicklung

Die rechtliche Behandlung des Arbeitskampfrisikos entwickelte sich im Zusammenhang mit der zunehmenden Anerkennung des Streikrechts in Deutschland. Während des 19. und frühen 20. Jahrhunderts war das Recht auf Arbeitskampfmaßnahmen stark eingeschränkt. Mit dem Grundgesetz und der darauf fußenden Rechtsprechung, insbesondere des Bundesarbeitsgerichts (BAG), wurde sowohl der Streik als auch das Recht auf Aussperrung als zulässiges Mittel der Tarifautonomie anerkannt. Die Frage der Risiko- und Zuordnungsfolgen ist seither Gegenstand umfangreicher Rechtsprechung.

Rechtsgrundlagen des Arbeitskampfrisikos

Verfassungsrechtliche Grundlagen

Das Arbeitskampfrisiko ist eng mit der im Grundgesetz (Art. 9 Abs. 3 GG) garantierten Koalitionsfreiheit verknüpft. Das Recht, Arbeitskampfmaßnahmen durchzuführen, ist ein wesentlicher Bestandteil der Tarifautonomie. Die Grundrechte begrenzen die Möglichkeiten, das Arbeitskampfrisiko einseitig zuweisen oder zu beschränken.

Einfachgesetzliche Regelungen

Während das Arbeitskampfrisiko nicht ausdrücklich im Gesetz geregelt ist, ergeben sich maßgebliche Konsequenzen aus dem Arbeitsvertragsrecht des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB). Insbesondere § 615 Satz 1 BGB zur Annahmeverzugsvergütung und §§ 275 ff. BGB zum Wegfall der Leistungspflicht bieten Ansatzpunkte für die Behandlung des Arbeitskampfrisikos.

Kollektivrechtliche Vereinbarungen

Tarifverträge und Betriebsvereinbarungen können Regelungen zum Umgang mit Arbeitskampfrisiken enthalten, soweit sie nicht gegen höherrangiges Recht oder die guten Sitten verstoßen.

Zuordnung des Arbeitskampfrisikos im Detail

Grundsatz: Ruhen von Leistungspflichten

Während eines rechtmäßigen Arbeitskampfs ruhen die Hauptleistungspflichten aus dem Arbeitsverhältnis, das heißt die Pflicht zur Arbeitsleistung und die Pflicht zur Zahlung der Vergütung. Die Nichtleistung von Arbeit während eines Streiks führt grundsätzlich zum Verlust des Vergütungsanspruchs für die ausgesperrten oder streikenden Arbeitnehmer. Parallel entfällt im Regelfall auch die Pflicht des Arbeitgebers zur Beschäftigung und Entgeltauszahlung.

Streikbedingtes Arbeitskampfrisiko

Arbeitnehmer, die sich rechtmäßig an einem Streik beteiligen, verlieren unmittelbar für die Dauer der Beteiligung ihren Anspruch auf Vergütung (§ 275 Abs. 1, § 326 Abs. 1 BGB). Sie tragen folglich das individuelle Arbeitskampfrisiko im Hinblick auf Einkommensverluste. Soweit Arbeitnehmer nicht streiken, aber durch den Streik von der Arbeit abgehalten werden, spricht man von mittelbaren Arbeitskampffolgen. Hier kann teilweise ein Anspruch auf Vergütung für nicht erbrachte Arbeitsleistungen bestehen, etwa wenn der Arbeitgeber sich im Annahmeverzug nach § 615 Satz 1 BGB befindet – dies ist jedoch im laufenden Arbeitskampf regelmäßig ausgeschlossen.

Arbeitgeberseitige Aussperrung

Bei einer Aussperrung verweigern Arbeitgeber kollektiv die Beschäftigung von Arbeitnehmern, deren Gruppe durch Arbeitskampfmaßnahmen der Gegenseite – insbesondere durch einen Streik – betroffen ist. Auch hier erlischt für betroffene Arbeitnehmer der Lohnanspruch. Das Risiko der Lohnausfälle ist in diesen Konstellationen gleichmäßig zwischen den Parteien verteilt.

Betriebsrisiko und Arbeitskampfrisiko

Das Betriebsrisiko, also das Risiko des Arbeitsausfalls aufgrund von betrieblichen Umständen, trägt nach § 615 Satz 3 BGB grundsätzlich der Arbeitgeber. Davon zu unterscheiden ist das Arbeitskampfrisiko, das als Ausdruck kollektiver Auseinandersetzungen betrachtet wird. Während typische Betriebsrisiken wie Maschinenausfälle oder Naturereignisse dem Arbeitgeber zur Last fallen, wird das Arbeitskampfrisiko nicht dem Betriebsrisiko zugeordnet.

Bundesarbeitsgericht und Rechtsprechung grenzen das Arbeitskampfrisiko ausdrücklich vom Betriebsrisiko ab – auch mittelbar betroffene, nicht streikende Arbeitnehmer können den üblichen Vergütungsanspruch bei Arbeitsausfall durch Streikmaßnahmen nicht geltend machen. Ein Annahmeverzug des Arbeitgebers wird in diesen Konstellationen abgelehnt.

Rechtsprechung zum Arbeitskampfrisiko

Grundsatzentscheidungen des Bundesarbeitsgerichts

Das Bundesarbeitsgericht hat in zahlreichen Urteilen die Zuordnung des Arbeitskampfrisikos konkretisiert (u.a. BAG, Urteil vom 7. Dezember 1988 – 4 AZR 376/88). Maßgebend ist, dass das Risiko kampfbedingter Lohn- und Beschäftigungsausfälle grundsätzlich die jeweilige Arbeitsvertragspartei trägt, die von der eigenen Kollektivmaßnahme betroffen ist.

Sonderfall: Kurzarbeit und Arbeitskampfrisiko

In Fällen, in denen durch Arbeitskampfmaßnahmen Kurzarbeit angeordnet wird, hat das Bundesarbeitsgericht festgestellt, dass eine Vergütungszahlungspflicht des Arbeitgebers auch während der Kurzarbeit entfällt, sofern der Arbeitsausfall ausschließlich auf kollektiven Arbeitskampfmaßnahmen beruht.

Unterschiedliche Beurteilungen bei Drittbeteiligung

Kommt es zu Arbeitsausfällen, weil ein Arbeitskampf in einem anderen Unternehmen stattfindet, werden die Folgen dem Bereich des Betriebsrisikos zugeordnet – sofern der eigene Betrieb nicht selbst Streikpartei ist und die Störung als externe Einwirkung gilt.

Auswirkungen und Bedeutung des Arbeitskampfrisikos

Soziale Absicherung

Für streikende Arbeitnehmer bietet die Gewerkschaft in der Regel Streikgeld als Ausgleichszahlung an. Für ausgesperrte oder mittelbar vom Arbeitskampf betroffene Arbeitnehmer bestehen keine gesetzlichen Ansprüche auf staatliche Leistungen oder Entgeltfortzahlung.

Bedeutung für das Arbeitsverhältnis

Das Arbeitskampfrisiko stellt einen erheblichen Unsicherheitsfaktor für beide Vertragsparteien dar. Es prägt die strategischen Überlegungen im Tarifkonflikt und beeinflusst die Bereitschaft, Arbeitskampfmaßnahmen zu ergreifen oder durchzuhalten. Die eindeutige rechtliche Trennung von Betriebs- und Arbeitskampfrisiko stärkt die Verhandlungsmacht der tarifschließenden Parteien und sichert die Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie.

Literatur und weiterführende Hinweise

  • Bundesarbeitsgericht: Grundsatzurteile zum Arbeitskampfrisiko
  • Hueck/Nipperdey: Lehrbuch des Arbeitsrechts
  • Däubler: Arbeitskampfrecht
  • ErfK, Müller-Glöge: Arbeitsrecht Kommentar, § 615 BGB

Dieser Artikel bietet eine umfassende Übersicht über das Arbeitskampfrisiko, seine rechtlichen Grundlagen und die maßgeblichen Auswirkungen im Arbeitsrecht.

Häufig gestellte Fragen

Welche Rechtsfolgen ergeben sich für Arbeitsverhältnisse bei rechtmäßigen Streiks?

Im Falle eines rechtmäßigen Streiks ruht das Arbeitsverhältnis zeitweise. Arbeitnehmer sind während eines rechtmäßigen Arbeitskampfs von der Arbeitspflicht ebenso wie vom Anspruch auf Vergütung nach § 615 BGB befreit. Der Arbeitgeber ist während der Dauer des Streiks nicht verpflichtet, Lohn oder Gehalt zu zahlen, da keine Arbeitsleistung erbracht wird und das sogenannte Betriebsrisiko gemäß der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) in dieser Phase nicht beim Arbeitgeber liegt. Ansprüche auf Sozialleistungen wie Arbeitslosengeld bestehen während des Streiks grundsätzlich nicht (§ 156 SGB III). Allerdings können Gewerkschaften zur teilweisen Kompensation Streikunterstützung („Streikgeld“) leisten, das jedoch nicht gesetzlich garantiert ist. Die Zeit des Streiks gilt zudem als beitragsfreie Zeit in der Sozialversicherung, sofern keine Streikunterstützung gezahlt wird und der Arbeitnehmer nicht eigenständig versichert ist. Nach Ende des Streiks lebt das Arbeitsverhältnis in der Regel unverändert wieder auf. Sperrzeiten für Arbeitslosengeld können aber drohen, wenn ein Arbeitnehmer bewusst an einem nicht rechtmäßigen Streik teilnimmt.

Können Arbeitgeber während eines Arbeitskampfes sogenannte „Aussperrungen“ vornehmen?

Das deutsche Arbeitskampfrecht lässt als Reaktion auf einen Arbeitskampf grundsätzlich die defensive Aussperrung (also als Abwehrmaßnahme auf einen Streik) zu. Dabei werden vom Arbeitgeber Arbeitnehmer von der Arbeit ausgeschlossen, um so wirtschaftlichen Druck auf die Gewerkschaft auszuüben. Die Aussperrung ist unter bestimmten Voraussetzungen zulässig, wenn sie sich als „symmetrische“ und verhältnismäßige Reaktion auf einen Streik darstellt. Eine „kalte“ Aussperrung (Ausschluss nicht streikender Arbeitnehmer noch vor Streikbeginn) ist hingegen grundsätzlich unzulässig. Während der Aussperrung ruhen die wechselseitigen Hauptpflichten (Arbeitsleistung und Entgeltzahlung). Das Betriebsrisiko liegt im Arbeitskampf ebenfalls nicht beim Arbeitgeber, die Zahlungsansprüche der ausgesperrten Arbeitnehmer entfallen in der Regel wie beim Streik.

Inwieweit genießen Arbeitnehmer während des Streiks einen besonderen Kündigungsschutz?

Arbeitnehmer, die sich an einem rechtmäßigen Streik beteiligen, genießen einen besonderen Schutz vor Kündigung nach § 612a BGB und durch die Arbeitskampfrechtsprechung. Eine ordentliche oder außerordentliche Kündigung des Arbeitsverhältnisses allein wegen der Teilnahme am rechtmäßigen Streik ist unwirksam. Gleiches gilt für sogenannte „Maßregelungskündigungen“. Etwas anderes gilt, wenn ein Arbeitnehmer während des Streiks arbeitsvertragswidrig handelt, z.B. bei Gewaltanwendung, Blockaden oder Sachbeschädigung – hier kann eine verhaltensbedingte Kündigung in Betracht kommen. Der Schutz gilt jedoch nur für rechtmäßige Streikmaßnahmen: Bei Teilnahme an einem rechtswidrigen Streik oder bei sonstigen Pflichtverletzungen kann das Arbeitsverhältnis gekündigt werden.

Wer trägt das Risiko von Betriebsstörungen oder Produktionsausfällen während eines Arbeitskampfes?

Während eines rechtmäßigen Arbeitskampfs liegt das Risiko von Produktionsausfällen oder Betriebsstörungen grundsätzlich nicht beim Arbeitgeber („Betriebsrisiko“). Steuerungs- und Produktionsausfälle aufgrund von Arbeitskampfmaßnahmen werden nicht wie „normale“ Betriebsrisiken gewertet, sondern gelten als Folge des Arbeitskampfs, sodass der Arbeitgeber von der Pflicht zur Zahlung der Vergütung nach § 615 Satz 3 BGB befreit ist. Der Arbeitnehmer hat während dieser Zeit keinen Anspruch auf Annahmeverzugslohn. Auch für nicht streikende Arbeitnehmer, die aufgrund des Streiks nicht eingesetzt werden können („Ausfall wegen Streikfolgen“), besteht in der Regel kein Vergütungsanspruch.

Wann ist ein Arbeitskampf im rechtlichen Sinne als „rechtmäßig“ anzusehen?

Ein rechtmäßiger Arbeitskampf im arbeitsrechtlichen Sinne setzt voraus, dass er von einer tariffähigen Partei (z.B. einer Gewerkschaft) geführt wird, der Arbeitskampf ein tariflich regelbares Ziel verfolgt, das Prinzip der Verhältnismäßigkeit eingehalten wird und der Arbeitskampf erst nach Scheitern der Tarifverhandlungen (Abbruch bzw. „Aussichtslosigkeit“ der Verhandlungen) als „ultima ratio“ begonnen wird. Zudem müssen die gesetzlichen Friedenspflichten sowie das Gebot der Fairness, insbesondere die Ankündigungs- und Warnpflichten gegenüber dem Arbeitgeber, beachtet werden. Rechtswidrige Arbeitskämpfe – etwa „wilde Streiks“ – sind nicht geschützt und führen zu disziplinarischen oder arbeitsrechtlichen Konsequenzen für die Teilnehmer.

Welche Bedeutung haben Notdienste und Aufrechterhaltung lebenswichtiger Betriebe während eines Streiks?

Das Arbeitskampfrecht verlangt insbesondere in sensiblen Bereichen die Aufrechterhaltung eines Notdienstes, um die öffentliche Sicherheit, Ordnung oder die Versorgung mit lebensnotwendigen Gütern sicherzustellen. Gerade im Krankenhausbereich, in der Energieversorgung oder im öffentlichen Nahverkehr müssen Notdienste in Abstimmung mit den Sozialpartnern organisiert werden, um Gefährdungen für Leib, Leben und wesentliche Gemeinschaftsgüter zu vermeiden. Die Ausgestaltung obliegt regelmäßigen tariflichen Vereinbarungen oder wird im Zuge der Arbeitskampfmaßnahmen kurzfristig zwischen den Tarifparteien ausgehandelt. Die Verpflichtung zur Einrichtung eines Notdienstes besteht jedoch nur dort, wo dies zwingend erforderlich ist.

Können Arbeitnehmer während eines Streiks einseitig Urlaub nehmen oder eine Krankschreibung vorlegen, um dem Arbeitskampfrisiko zu entgehen?

Während eines Arbeitskampfes kann Urlaub nicht einseitig genommen werden, wenn dieser den Streik unterlaufen würde; der Arbeitgeber muss einen bereits genehmigten Urlaub grundsätzlich gewähren, doch neuer Urlaubswünsche kann während eines Streiks in der Regel abgelehnt werden, um die Streikwirkung nicht zu beeinträchtigen. Im Krankheitsfall erhalten arbeitsunfähige Arbeitnehmer weiterhin Entgeltfortzahlung nach § 3 Entgeltfortzahlungsgesetz, vorausgesetzt, die Arbeitsunfähigkeit bestand bereits vor Streikbeginn und ist ärztlich nachgewiesen. Tritt die Arbeitsunfähigkeit erst während des Streiks auf, entfällt die Entgeltfortzahlung, da der Arbeitsausfall nicht mehr auf Arbeitsunfähigkeit, sondern auf den Arbeitskampf zurückzuführen ist.

Welche Auswirkungen hat ein Arbeitskampf auf das Verhältnis zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat?

Während eines Arbeitskampfs bleibt der Betriebsrat handlungsfähig und behält seine Mitbestimmungs- und Beteiligungsrechte (§ 74 Abs. 2 BetrVG), etwa bei personellen Maßnahmen oder Regelungen zur Arbeitszeit, soweit diese nicht eindeutig vom Arbeitskampf betroffen sind. Er darf sich weder aktiv am Streik beteiligen noch Maßnahmen des Arbeitgebers zur Aufrechterhaltung des Betriebs oder der Arbeitswilligen boykottieren. Eine rein unterstützende Tätigkeit einzelner Betriebsratsmitglieder im Rahmen allgemeiner gewerkschaftlicher Aktionen – jedoch nicht als Betriebsratsorgan – ist zulässig. Der Arbeitgeber hat weiterhin sämtliche Informations- und Beteiligungspflichten einzuhalten, sofern diese nicht unmittelbar in den Arbeitskampf eingreifen.