Begriff und Wesen der Arbeitnehmerfreizügigkeit
Die Arbeitnehmerfreizügigkeit ist ein zentrales Prinzip des europäischen Binnenmarktes und dient der Beseitigung von Hindernissen für die Freizügigkeit von Arbeitskräften innerhalb der Europäischen Union (EU) und des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR). Sie ist in Artikel 45 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) geregelt und garantiert Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern das Recht, sich in jedem Mitgliedstaat der EU auf eine Arbeitsstelle zu bewerben, dort zu arbeiten und sich niederzulassen.
Definition der Arbeitnehmerfreizügigkeit
Die Arbeitnehmerfreizügigkeit bezeichnet das Recht von Personen, die in einem Mitgliedstaat der EU, des EWR oder der Schweiz die Staatsangehörigkeit besitzen, in jedem anderen Mitgliedstaat unselbstständige Erwerbstätigkeit zu suchen, auszuüben und sich zum Zwecke dieser Tätigkeit dort aufzuhalten und niederzulassen. Dieses Recht schließt auch die Beseitigung der Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit in Bezug auf Zugang zu Beschäftigung, Arbeitsbedingungen und sonstigen Vergünstigungen ein.
Rechtliche Grundlagen der Arbeitnehmerfreizügigkeit
Europarechtliche Fundamente
Artikel 45 AEUV
Artikel 45 AEUV bildet das Kernstück der Arbeitnehmerfreizügigkeit. Er gewährleistet, dass sämtliche Beschränkungen durch nationale Regelungen oder Verwaltungspraxis aufgehoben werden, soweit sie die Aufnahme und Ausübung einer unselbstständigen Tätigkeit in einem anderen Mitgliedstaat beeinträchtigen.
Sekundärrechtliche Regelungen
Neben dem Primärrecht konkretisieren sekundärrechtliche Rechtsakte, insbesondere die Verordnung (EU) Nr. 492/2011 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Union, die Rechte aus Artikel 45 AEUV im Detail. Diese Verordnung regelt Gleichbehandlung in Bezug auf Beschäftigungsbedingungen, soziale und steuerliche Vorteile, sowie den Zugang zu Wohnraum und Bildung für Kinder von Arbeitnehmern.
Zwischenstaatliche Abkommen und Erweiterung auf den EWR und die Schweiz
Das am 2. Mai 1992 unterzeichnete EWR-Abkommen dehnt die Arbeitnehmerfreizügigkeit auf die Länder des EWR aus. Darüber hinaus existieren bilaterale Abkommen zwischen der EU und der Schweiz, welche vergleichbare Rechte und Pflichten für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aus der Schweiz und den EU-Mitgliedstaaten vorsehen.
Umfang und Inhalt der Arbeitnehmerfreizügigkeit
Schutzbereich
Räumlicher Geltungsbereich
Die Arbeitnehmerfreizügigkeit gilt innerhalb aller EU-Mitgliedstaaten, der EWR-Staaten Norwegen, Island und Liechtenstein sowie der Schweiz.
Persönlicher Geltungsbereich
Das Recht steht allen Staatsangehörigen der genannten Staaten zu, die im rechtlichen Sinn als Arbeitnehmer gelten. Der Begriff Arbeitnehmer ist nach ständiger Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs weit auszulegen. Ausgenommen sind jedoch Selbstständige, Dienstleister und Beamte in zentralen hoheitlichen Tätigkeiten.
Sachlicher Geltungsbereich
Die Arbeitnehmerfreizügigkeit umfasst:
- das Recht, sich in anderen Mitgliedstaaten aufzuhalten und dort eine Erwerbstätigkeit aufzunehmen,
- das Recht, unter den gleichen Voraussetzungen wie Inländer Zugang zu Beschäftigung, Arbeitsbedingungen und sozialen sowie steuerlichen Begünstigungen zu erhalten,
- das Recht, nach Beendigung der Erwerbstätigkeit im Gaststaat zu verbleiben, sofern bestimmte Bedingungen erfüllt sind (z.B. ausreichende Existenzmittel).
Beschränkungen und Ausnahmen
Öffentliche Ordnung, Sicherheit und Gesundheit
Nach Artikel 45 Abs. 3 AEUV kann die Arbeitnehmerfreizügigkeit aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit eingeschränkt werden. Eine Ausweisung muss dabei einzelfallbezogen und verhältnismäßig erfolgen.
Beamtenausnahme
Artikel 45 Abs. 4 AEUV erlaubt es den Mitgliedstaaten, Stellen im öffentlichen Dienst, die mit der Ausübung hoheitlicher Befugnisse verbunden sind, ihren eigenen Staatsangehörigen vorzubehalten. Diese Ausnahme wird allerdings restriktiv ausgelegt.
Übergangsregelungen bei EU-Erweiterungen
In der Vergangenheit kamen bei Erweiterungen der Europäischen Union Übergangsregelungen zum Tragen, die den unmittelbaren Zugang zum Arbeitsmarkt für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aus neuen Mitgliedstaaten zeitlich begrenzt einschränkten.
Rechte und Pflichten aus der Arbeitnehmerfreizügigkeit
Gleichbehandlungsgebot
Nach Artikel 7 der Verordnung (EU) Nr. 492/2011 haben Arbeitnehmer aus anderen Mitgliedstaaten Anspruch auf Gleichbehandlung hinsichtlich Zugang zur Beschäftigung, Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen, Kündigungsschutz, Arbeitsentgelt und sonstigen sozialen Vergünstigungen.
Niederlassungs- und Aufenthaltsrecht
Die Richtlinie 2004/38/EG regelt ergänzend das Recht auf Einreise und Aufenthalt für Arbeitnehmer und ihre Familienangehörigen. Dieses Recht umfasst auch den dauerhaften Aufenthalt nach fünf Jahren ununterbrochenen, ordnungsgemäßen Aufenthaltes.
Sozialrechtliche Koordination
Die Verordnung (EG) Nr. 883/2004 dient der Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit in der EU. Ziel ist die Sicherstellung, dass Ansprüche aus der Sozialversicherung (z.B. Renten, Krankenversicherung) bei einem Wechsel zwischen Mitgliedstaaten nicht verloren gehen.
Rechtsschutz und Durchsetzung
Rechtsmittel und Klagebefugnisse
Betroffene können sich im Falle einer Verletzung ihrer Rechte unmittelbar auf die Regeln zur Arbeitnehmerfreizügigkeit berufen und haben Zugang zu innerstaatlichen Gerichten. Auch der Europäische Gerichtshof hat die Arbeitnehmerfreizügigkeit durch zahlreiche Urteile geprägt und weiterentwickelt.
Bedeutung und aktuelle Entwicklungen
Die Arbeitnehmerfreizügigkeit ist ein wesentlicher Pfeiler der Integration Europas. Sie trägt dazu bei, Fachkräfteengpässe auszugleichen, Mobilität zu fördern und die Wirtschaftskraft des Binnenmarktes zu stärken. Gleichzeitig steht sie im politischen und gesellschaftlichen Diskurs immer wieder im Fokus, beispielsweise im Zusammenhang mit dem Brexit, mit Fragen der Sozial- und Lohndumpingproblematik oder nationalen Arbeitsmarktschutzbestrebungen.
Literatur und weiterführende Links
- Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV)
- Verordnung (EU) Nr. 492/2011 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Union
- Richtlinie 2004/38/EG über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Gebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten
- Verordnung (EG) Nr. 883/2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit
Die Arbeitnehmerfreizügigkeit bleibt weiterhin ein dynamisches Rechtsgebiet, das regelmäßig durch europäische Gesetzgebung und fortschreitende Rechtsprechung ausgestaltet wird.
Häufig gestellte Fragen
Welche rechtlichen Voraussetzungen müssen Arbeitnehmer erfüllen, um die Arbeitnehmerfreizügigkeit innerhalb der Europäischen Union in Anspruch nehmen zu können?
Arbeitnehmer müssen die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates der Europäischen Union oder eines durch das Freizügigkeitsabkommen gleichgestellten Staates (z.B. EWR-Staaten, Schweiz) besitzen. Sie müssen zudem ein tatsächliches und nicht nur fiktives Arbeitsverhältnis bei einem Arbeitgeber eines anderen EU-Mitgliedstaates eingehen oder suchen. Das Recht auf Arbeitnehmerfreizügigkeit leitet sich unmittelbar aus Artikel 45 AEUV sowie aus der Verordnung (EU) Nr. 492/2011 ab. Im rechtlichen Sinne ist die Suche nach einer Arbeitsstelle bereits ausreichend, um eine Aufenthaltsberechtigung im Aufnahmestaat zu begründen, wobei das Aufenthaltsrecht nach einer angemessenen Zeitspanne (i.d.R. sechs Monate beim Nachweis der Arbeitssuche) überprüft werden kann. Gewerbliche Selbstständige sind allerdings von dieser Form der Freizügigkeit ausgenommen; sie fallen unter die Niederlassungsfreiheit.
In welchen Fällen darf die Ausübung der Arbeitnehmerfreizügigkeit beschränkt oder ausgeschlossen werden?
Beschränkungen sind aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit zulässig, basierend auf Artikel 45 Absatz 3 AEUV sowie Artikel 27 der Richtlinie 2004/38/EG. Diese Ausnahmen werden in der Praxis jedoch restriktiv ausgelegt. Ein Automatismus, etwa im Falle einer strafrechtlichen Verurteilung, ist ausgeschlossen; vielmehr muss eine gegenwärtige, tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung der Grundinteressen der Gesellschaft vorliegen. Darüber hinaus ist diskriminierungsfreie Behandlung erforderlich: Maßnahmen dürfen nicht allein auf die Staatsangehörigkeit gestützt werden, und es müssen stets individuelle, im Einzelfall begründete Entscheidungen getroffen werden. Wirtschaftliche Gründe sind für Beschränkungen grundsätzlich unzulässig.
Besteht für Arbeitnehmer aus anderen EU-Staaten ein Anspruch auf Gleichbehandlung im Arbeitsverhältnis?
Ja, Arbeitnehmer, die von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch machen, haben nach Artikel 45 Absatz 2 AEUV einen unbedingten Anspruch auf Gleichbehandlung hinsichtlich aller Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen. Dies umfasst insbesondere Zugang zu Beschäftigung, Entlassungsbedingungen, Lohn, Sozial- und Steuervergünstigungen sowie Mitgliedschaft in Gewerkschaften. Diskriminierungen aufgrund der Staatsangehörigkeit sind unzulässig. Einschränkungen können sich nur aus zwingenden Sachgründen ergeben und müssen verhältnismäßig sein. Die Gleichbehandlungspflicht erstreckt sich ebenfalls auf den Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen, soweit diese mit dem Arbeitsverhältnis verbunden sind.
Wie wirkt sich die Arbeitnehmerfreizügigkeit auf die Anerkennung von Berufsqualifikationen aus?
Die gegenseitige Anerkennung von Berufsqualifikationen wird durch die Richtlinie 2005/36/EG geregelt. Sie sieht vor, dass Berufsabschlüsse und Qualifikationen grundsätzlich gegenseitig anerkannt werden müssen. Bestimmte reglementierte Berufe (wie Ärzte, Architekten, Rechtsanwälte) erfordern oftmals zusätzliche Nachweise oder Prüfungen. Rechtlich gilt: Wird eine Anerkennung abgelehnt, muss dies individuell und mit Angaben zu den Defiziten im Ausbildungsstand begründet werden; dem Arbeitnehmer muss die Möglichkeit eingeräumt werden, diese Defizite durch geeignete Anpassungsmaßnahmen oder Prüfungen zu kompensieren.
Haben arbeitslose EU-Bürger Anspruch auf soziale Leistungen im Aufnahmestaat?
Der Anspruch arbeitsloser EU-Bürger auf Sozialleistungen hängt vom Aufenthaltsstatus und dem Grad der Integration in den Arbeitsmarkt ab. Während Arbeitnehmer und Personen, die sich aktiv um Arbeit bemühen, ein Anrecht auf bestimmte Sozialleistungen (z.B. Arbeitslosengeld II in Deutschland) haben können, wird nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs und §§ 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II differenziert: Wird der Aufenthalt ausschließlich zum Zweck der Arbeitssuche begründet und besteht keine vorherige Erwerbstätigkeit, kann der Sozialleistungsanspruch eingeschränkt sein. Die Regelungen dienen insbesondere dazu, eine unangemessene Inanspruchnahme von Sozialsystemen („Sozialtourismus“) zu verhindern, müssen aber stets im Lichte der unionsrechtlich garantierten Gleichbehandlung sowie der Verhältnismäßigkeit ausgelegt werden.
Welche Pflichten haben Arbeitgeber gegenüber Arbeitnehmern, die ihr Recht auf Freizügigkeit wahrnehmen?
Arbeitgeber sind verpflichtet, Arbeitnehmer aus anderen EU-Mitgliedstaaten in gleichem Maße wie inländische Arbeitnehmer zu beschäftigen, zu entlohnen und hinsichtlich Arbeitsbedingungen zu behandeln. Sie dürfen keine Benachteiligungen bei Einstellung, beruflichem Aufstieg oder Kündigung vornehmen. Darüber hinaus müssen Arbeitgeber die im Gastland geltenden Mindeststandards, z.B. im Bereich Arbeitsschutz und Entgelt, einhalten. Darüber hinaus kann je nach Mitgliedstaat eine Meldepflicht über die Anstellung von ausländischen Arbeitnehmern bestehen, die dem Nachweis ordnungsgemäßer Sozialversicherungsbeiträge dient. Die Kontrolle der Einhaltung dieser Pflichten obliegt nationalen Aufsichtsbehörden, Verstöße werden arbeits- bzw. strafrechtlich sanktioniert.
Können nationale Vorschriften die Arbeitnehmerfreizügigkeit einschränken?
Nationale Vorschriften, die die Ausübung der Arbeitnehmerfreizügigkeit direkt oder indirekt beschränken, sind grundsätzlich unzulässig und mit dem Unionsrecht nicht vereinbar. Eine indirekte Beschränkung liegt etwa dann vor, wenn allgemeine Vorschriften eine besondere Benachteiligung von ausländischen Arbeitnehmern bewirken. Lediglich solche Regelungen, die aus besonders wichtigen Gründen des Allgemeininteresses zwingend notwendig sind (wie z.B. Schutz der öffentlichen Gesundheit oder Sicherheit und Verhältnismäßigkeit), können gerechtfertigt werden. Die Mitgliedstaaten tragen die Beweislast für die Rechtmäßigkeit solcher Einschränkungen und unterliegen hierbei der Kontrolle durch den Europäischen Gerichtshof.
Welche Rolle spielt der Europäische Gerichtshof bei der Durchsetzung der Arbeitnehmerfreizügigkeit?
Der Europäische Gerichtshof (EuGH) nimmt die zentrale Rolle bei der Auslegung und Durchsetzung der unionsrechtlichen Vorschriften zur Arbeitnehmerfreizügigkeit ein. Er entscheidet auf Vorlage nationaler Gerichte im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens über die richtige Interpretation der einschlägigen Bestimmungen und sorgt für eine einheitliche Anwendung im gesamten Unionsgebiet. Der EuGH hat in zahlreichen Grundsatzentscheidungen (z.B. „Bosman“, „Gueye“, „Vatsouras“) die Reichweite, Voraussetzungen und Schranken der Arbeitnehmerfreizügigkeit präzisiert und damit maßgeblich zur weiteren Ausgestaltung dieses Grundrechts beigetragen. Seine Urteile sind für die Mitgliedstaaten bindend und können nationale Regelungen für unanwendbar erklären, sofern diese mit dem Unionsrecht nicht vereinbar sind.