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Allgemeinverbindlichkeit


Begriff und Bedeutung der Allgemeinverbindlichkeit

Die Allgemeinverbindlichkeit ist ein zentraler Begriff des deutschen und europäischen Arbeits- sowie Tarifrechts. Sie bezeichnet die rechtsverbindliche Ausdehnung einer tariflichen Regelung, insbesondere eines Tarifvertrags, auf Personen und Betriebe, die an den zugrunde liegenden Tarifvertrag nicht kraft eigenen Abschlusses oder Mitgliedschaft gebunden sind. Die Allgemeinverbindlicherklärung stellt sicher, dass tariflich ausgehandelte Standards für eine ganze Branche oder bestimmte regionale Branchenbereiche gelten und damit auch solche Arbeitsverhältnisse erfasst werden, die außerhalb des typischen Geltungsbereichs des Tarifvertrags liegen.

Rechtsgrundlagen der Allgemeinverbindlichkeit

Tarifvertragsgesetz (TVG)

Die gesetzliche Grundlage für die Allgemeinverbindlichkeit bildet das Tarifvertragsgesetz (TVG), insbesondere § 5 TVG. Hier ist geregelt, unter welchen Voraussetzungen ein Tarifvertrag durch das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) für allgemeinverbindlich erklärt werden kann. Die Allgemeinverbindlicherklärung ist ein Verwaltungsakt und erfolgt im Einvernehmen mit einem von der Bundesregierung berufenen Tarifausschuss.

Voraussetzungen nach § 5 TVG

Gemäß § 5 Abs. 1 TVG kann ein Tarifvertrag auf Antrag einer Tarifvertragspartei für allgemeinverbindlich erklärt werden, wenn

  • der Tarifvertrag für eine Vielzahl von Arbeitsverhältnissen maßgebend ist,
  • ein öffentliches Interesse an der Erstreckung besteht,
  • der Tarifausschuss dem Antrag zustimmt,
  • die ordnungsgemäße Veröffentlichung des Tarifvertrags erfolgt.

Wechselwirkungen mit anderen Gesetzen

Neben dem TVG gibt es weitere gesetzliche Bestimmungen, die auf die Allgemeinverbindlichkeit Bezug nehmen, beispielsweise im Arbeitnehmer-Entsendegesetz (AEntG) oder im Mindestlohngesetz (MiLoG). Hier wird die Allgemeinverbindlichkeit gezielt genutzt, um bestimmte Arbeits- und Sozialstandards in sensiblen oder grenzüberschreitenden Branchen zu sichern.

Verfahren der Allgemeinverbindlicherklärung

Antrag und Beteiligte

Die Initiative zur Allgemeinverbindlicherklärung geht regelmäßig von den Tarifvertragsparteien aus, üblicherweise Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände. Der Antrag wird beim BMAS gestellt. Anschließend prüft der Tarifausschuss, bestehend aus einer gleichen Zahl von Beauftragten der Arbeitnehmer- und Arbeitgeberseite, die Voraussetzungen.

Anhörungs- und Prüfverfahren

Vor der Entscheidung müssen die maßgeblichen Arbeitgeber und Arbeitnehmer, die dem Tarifvertrag nicht unterliegen, angehört werden. Das Ministerium prüft insbesondere die Vereinbarkeit mit dem Gemeinwohl sowie das Vorliegen eines schützenswerten Allgemeininteresses.

Veröffentlichung und Wirkung

Die Allgemeinverbindlicherklärung wird im Bundesanzeiger bekannt gemacht. Ab diesem Zeitpunkt gilt der Tarifvertrag verbindlich für sämtliche Arbeitsverhältnisse im sachlichen, räumlichen und fachlichen Geltungsbereich – unabhängig von einer Verbandsmitgliedschaft oder einem sonstigen besonderen Anschluss.

Wirkungen und Reichweite der Allgemeinverbindlichkeit

Erweiterter Geltungsbereich

Die Wirkungen der Allgemeinverbindlichkeit erstrecken sich auf alle Arbeitsverhältnisse und Betriebe, die in den Geltungsbereich des Tarifvertrags fallen, auch wenn diese nicht Mitglieder tarifschließender Verbände sind oder dem Tarifvertrag nicht individuell zugestimmt haben. Arbeitgeber müssen die tariflichen Regelungen dann verpflichtend anwenden.

Arbeitsrechtliche Folgen

Im Rahmen der Allgemeinverbindlichkeit gehen die tariflichen Regelungen in den betroffenen Arbeitsverhältnissen gesetzlichen Mindeststandards vor, soweit sie günstiger sind. Sie verdrängen insoweit auch abweichende vertragliche Regelungen zulasten der Arbeitnehmer. Ein Verstoß gegen allgemeinverbindliche Tarifregelungen kann arbeitsrechtliche Ansprüche der Beschäftigten sowie ordnungsrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Bedeutung für Branchen

Die Allgemeinverbindlichkeit ermöglicht die Schaffung einheitlicher Mindestarbeitsbedingungen in Branchen mit geringer Tarifbindung oder starker Konkurrenzsituation. Sie kann Wettbewerbsverzerrungen verhindern und Sozialdumping entgegenwirken, indem sie Mindestlöhne, Arbeitszeiten und weitere Arbeitsbedingungen branchenweit sichert.

Beendigung und Aufhebung der Allgemeinverbindlichkeit

Zeitliche Begrenzung und Widerruf

Die Allgemeinverbindlichkeit endet in der Regel mit Ablauf des Tarifvertrags, spätestens ab dem Zeitpunkt der Kündigung. Das BMAS kann die Allgemeinverbindlicherklärung auch vorzeitig aufheben, sofern das öffentliche Interesse nicht mehr vorliegt oder die Voraussetzungen entfallen sind.

Nachwirkung

Viele Tarifverträge enthalten sogenannte Nachwirkungsklauseln, die sicherstellen, dass beendete Regelungen bis zum Inkrafttreten neuer Vereinbarungen weiter gelten. Im Bereich der Allgemeinverbindlichkeit werden diese Nachwirkungen jedoch nach Ablauf der Allgemeinverbindlichkeit durch die arbeitsvertraglichen Mindestvorgaben abgelöst.

Allgemeinverbindlichkeit im europäischen Kontext

Auch im europäischen Arbeitsrecht ist die Allgemeinverbindlichkeit bekannt, etwa in Frankreich, Belgien und den Niederlanden, wobei die jeweiligen Regelungen teils unterschiedlich ausgestaltet sind. Die Allgemeinverbindlicherklärung dient europaweit in vielen Staaten dazu, brancheneinheitliche Mindestbedingungen zu schaffen und faire Wettbewerbsbedingungen am Arbeitsmarkt zu sichern. Auch europäische Richtlinien wie etwa Entsende-Richtlinien nehmen Bezug auf die Auswirkungen allgemeinverbindlicher tariflicher Regelungen.

Kritische Würdigung und aktuelle Entwicklung

Die Allgemeinverbindlicherklärung wird regelmäßig kontrovers diskutiert. Befürworter sehen sie als wesentliches Instrument zur Sicherung fairer Arbeitsbedingungen und zur Stärkung des Tarifvertragssystems, insbesondere in Bereichen mit niedriger Tarifbindung. Kritiker verweisen auf mögliche Einschränkungen der Tarifautonomie und eine womöglich eingeschränkte Flexibilität für nicht gebundene Betriebe.

In den letzten Jahren hat das BMAS das Verfahren durch die Einführung des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes und des Mindestlohngesetzes ergänzt und die Hürden für eine Allgemeinverbindlicherklärung in bestimmten Branchen gesenkt.

Literatur und weiterführende Informationen

Tarifvertragsgesetz (TVG)
Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) – Informationen zur Allgemeinverbindlicherklärung
Mindestlohngesetz (MiLoG)
Arbeitnehmer-Entsendegesetz (AEntG)
* Bundesanzeiger – aktuelle Allgemeinverbindlicherklärungen


Hinweis: Dieser Artikel liefert eine umfassende Übersicht über den Begriff und die rechtlichen Aspekte der Allgemeinverbindlichkeit und ist für die Veröffentlichung in einem Rechtslexikon geeignet.

Häufig gestellte Fragen

Welche rechtlichen Voraussetzungen müssen für eine Allgemeinverbindlicherklärung erfüllt sein?

Die rechtlichen Voraussetzungen für eine Allgemeinverbindlicherklärung ergeben sich überwiegend aus dem Tarifvertragsgesetz (insbesondere aus § 5 TVG) sowie aus spezialgesetzlichen Regelungen für bestimmte Branchen oder Regionen. Zwingende Voraussetzung ist zunächst das Vorliegen eines wirksamen Tarifvertrages zwischen mindestens einer Gewerkschaft und einem Arbeitgeberverband oder einzelnen Arbeitgeber. Des Weiteren muss ein gemeinsamer Antrag der Tarifvertragsparteien oder das Vorliegen eines besonderen öffentlichen Interesses (meistens zur Sicherstellung gleichwertiger Arbeitsbedingungen oder zum Schutz vor Wettbewerbsverzerrungen) vorhanden sein. Die Allgemeinverbindlicherklärung erfolgt durch das zuständige Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) beziehungsweise durch eine Landesbehörde. Im Entscheidungsprozess wird der sogenannte Tarifausschuss einbezogen, der sich aus Vertretern der Arbeitnehmer und Arbeitgeber zusammensetzt. Die Erklärung darf nur dann erfolgen, wenn dies zum Schutz der Allgemeinheit, zur Vermeidung sozialer oder wirtschaftlicher Ungleichgewichte und zur Wahrung fairer Wettbewerbsbedingungen erforderlich erscheint. Darüber hinaus dürfen keine schwerwiegenden rechtlichen oder tatsächlichen Bedenken gegen die Allgemeinverbindlicherklärung sprechen.

Wie unterscheidet sich die Allgemeinverbindlicherklärung von der schlichten Tarifbindung?

Die schlichte Tarifbindung ergibt sich aus der Mitgliedschaft der Tarifparteien in den jeweils verhandelnden Organisationen, das heißt, der Tarifvertrag findet grundsätzlich nur Anwendung auf Mitglieder der tarifschließenden Gewerkschaft beziehungsweise des Arbeitgeberverbands. Die Allgemeinverbindlicherklärung hingegen bewirkt, dass die im Tarifvertrag getroffenen Regelungen auf alle Arbeitgeber und Arbeitnehmer eines bestimmten Geltungsbereichs Anwendung finden, auch wenn diese nicht in den tarifschließenden Organisationen organisiert sind. Damit entfaltet der Tarifvertrag durch die Allgemeinverbindlicherklärung eine Rechtswirkung gegenüber Dritten und wird zu einer „Norm mit Gesetzeskraft“ innerhalb des abgegrenzten Wirkungsbereichs.

Welche Rechtsfolgen hat eine Allgemeinverbindlicherklärung für nicht tarifgebundene Arbeitgeber und Arbeitnehmer?

Mit der Allgemeinverbindlicherklärung erstrecken sich die tarifvertraglichen Regelungen zwingend auch auf alle nicht tarifgebundenen Arbeitgeber und Arbeitnehmer des jeweiligen Geltungsbereichs (§ 5 Abs. 4 TVG). Diese Normwirkung bedeutet, dass die betroffenen Arbeitsverhältnisse automatisch den tariflichen Standards unterliegen, unabhängig davon, ob ein direkter Tariflohnanspruch durch Mitgliedschaft besteht. Abweichende, ungünstigere Vereinbarungen im Arbeitsvertrag zugunsten der Arbeitnehmer sind unzulässig. Eine Ausnahme gilt lediglich, wenn im Tarifvertrag selbst Öffnungsklauseln vorgesehen sind oder im Arbeitsvertrag günstigere Regelungen für den Arbeitnehmer getroffen wurden (sogenanntes Günstigkeitsprinzip). Die Einhaltung der Allgemeinverbindlichkeit kann staatlich überprüft und bei Verstößen sanktioniert werden.

Können tarifliche Öffnungsklauseln auch bei allgemeinverbindlichen Tarifverträgen genutzt werden?

Ja, tarifliche Öffnungsklauseln bleiben auch bei einer Allgemeinverbindlicherklärung grundsätzlich wirksam. Eine Öffnungsklausel im Tarifvertrag gestattet es, in einem bestimmten Umfang von den tariflich vorgegebenen Regelungen – etwa zu Arbeitszeit, Entgelt oder Kündigungsfristen – durch Betriebs- oder Dienstvereinbarungen beziehungsweise einzelvertragliche Regelungen abzuweichen. Auch nach einer Allgemeinverbindlicherklärung gilt jedoch, dass diese abweichenden Regelungen nicht zu einer Verschlechterung der Arbeitsbedingungen im Vergleich zum Tarifvertrag führen dürfen, sofern das Günstigkeitsprinzip greift. Die Reichweite der Öffnungsklauseln richtet sich nach dem konkreten Tariftext und den jeweiligen gesetzlichen Vorgaben.

Welche Möglichkeiten der gerichtlichen Überprüfung einer Allgemeinverbindlicherklärung sind gegeben?

Gegen eine Allgemeinverbindlicherklärung besteht die Möglichkeit der gerichtlichen Überprüfung im Wege der Feststellungsklage (§ 5 Abs. 3a TVG i.V.m. den allgemeinen Vorschriften der Verwaltungsgerichtsordnung und des Arbeitsgerichtsgesetzes). Legitimate Kläger können betroffene Arbeitgeber, Arbeitnehmer sowie Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften sein, die ein unmittelbar rechtliches Interesse an der Feststellung der Wirksamkeit oder Unwirksamkeit der Allgemeinverbindlicherklärung geltend machen können. Die gerichtliche Überprüfung beschränkt sich insbesondere auf die Prüfung formaler Voraussetzungen, der Beachtung der Vorschriften des Tarifvertragsgesetzes und des Vorliegens eines hinreichenden öffentlichen Interesses sowie auf das Verfahren vor dem Tarifausschuss. Ferner werden mögliche Verstöße gegen höherrangiges Recht (wie zum Beispiel das Grundgesetz oder europarechtliche Vorgaben) geprüft.

Wie wirkt sich der Wegfall einer Allgemeinverbindlichkeit auf bestehende Arbeitsverhältnisse aus?

Mit Aufhebung der Allgemeinverbindlicherklärung entfällt die unmittelbare und zwingende Wirkung der tariflichen Normen für nicht tarifgebundene Arbeitsverhältnisse. Für Arbeitsverhältnisse, die während der Zeit der Allgemeinverbindlichkeit bestanden haben, gilt jedoch das sogenannte Nachwirkungsprinzip (§ 4 Abs. 5 TVG): Die wichtigsten Arbeitsbedingungen bleiben noch so lange verbindlich, bis sie durch eine neue Abmachung ausdrücklich ersetzt werden. lediglich für Arbeitsverhältnisse, die nach Außerkrafttreten der Allgemeinverbindlichkeit neu begründet werden, gelten die früheren tariflichen Regelungen nicht mehr zwingend. Tarifgebundene Arbeitsverhältnisse unterliegen weiterhin dem Tarifvertrag, solange er nicht gekündigt oder ersetzt wird.

Welche Rolle spielt das öffentliche Interesse bei der Allgemeinverbindlicherklärung?

Das öffentliche Interesse ist ein zentrales rechtliches Kriterium für die Allgemeinverbindlicherklärung (§ 5 Abs. 1 TVG). Es dient als Maßstab zur Abwägung, ob eine Ausdehnung des Tarifvertrages über die Tarifparteien hinaus gerechtfertigt ist. Ein öffentliches Interesse wird regelmäßig angenommen, wenn ohne Allgemeinverbindlichkeit ungleiche Wettbewerbsbedingungen drohen, also Arbeitgeber, die nicht tarifgebunden sind, gegenüber tarifgebundenen Arbeitgebern Vorteile hätten (sogenannte Wettbewerbsneutralität). Gleichzeitig kann das öffentliche Interesse darin liegen, soziale Mindeststandards zu sichern, Lohndumping zu verhindern und den sozialen Frieden zu wahren. Die Feststellung des öffentlichen Interesses obliegt dem zuständigen Ministerium bzw. der Behörde und stellt eine Ermessensentscheidung dar, die im Zweifelsfall gerichtlich überprüfbar ist.