Schätzung der Barabfindung bei aktienrechtlichen Strukturmaßnahmen: Ausweitung der Bewertungsmethoden nach OLG Celle
Die Fragen zur Angemessenheit der Barabfindung bei gesellschaftsrechtlichen Umstrukturierungen – etwa bei Squeeze-out, Verschmelzung oder Beherrschungs- und Gewinnabführungsvertrag – sind für außenstehende Aktionäre entscheidend, da sie maßgeblichen Einfluss auf ihre Vermögensinteressen haben. Die gerichtliche Praxis ist dabei auf zuverlässige Methoden angewiesen, um einen angemessenen Ausgleich sicherzustellen. Das Oberlandesgericht Celle griff in einer Entscheidung (Az. 9 W 88/09, Beschluss vom 22. Juli 2010) die Problemstellung auf, unter welchen Voraussetzungen eine „Schätzung” der Barabfindung zulässig ist und welche Anforderungen an die Herleitung und Nachvollziehbarkeit einer solchen Schätzung zu stellen sind.
Herleitung der Barabfindung: Regelmäßige Bewertungsmethoden
In der Praxis werden Abfindungsbeträge gewöhnlich entweder nach dem Ertragswertverfahren oder dem Discounted-Cash-Flow-Verfahren ermittelt, wobei auf die Zukunftserwartungen und den nachhaltigen Unternehmensertrag abgestellt wird. Diese etablierte Herangehensweise orientiert sich an den Grundsätzen des IDW S 1 und findet ihre gerichtliche Absicherung in der Spruchpraxis der Oberlandesgerichte und des Bundesgerichtshofs.
Die gesetzlichen Grundlagen für die Ermittlung der angemessenen Barabfindung sind in § 305 AktG (Abfindung bei Beherrschungs- und Gewinnabführungsvertrag) sowie in §§ 327a ff., 320b AktG (Squeeze-out bzw. Eingliederung) verankert. Der zu gewährende Ausgleich soll sicherstellen, dass die ausscheidenden Anteilseigner wirtschaftlich so gestellt werden, als wären sie an der weiteren Entwicklung der Gesellschaft beteiligt geblieben.
Zulässigkeit alternativer Methoden: Schätzung als gerichtliches Instrument
Vor dem Hintergrund der o.g. Entscheidung des OLG Celle ist hervorzuheben, dass das Gericht eine flexible Handhabung der Bewertungsmethoden vorsieht. Nach Auffassung des Gerichts kann ein Spruchverfahren nicht an einer punktuellen Unsicherheit scheitern, wenn die Grundlagen einer exakten Bewertung nicht mit hinreichender Sicherheit festgestellt werden können. In Ausnahmefällen ist es dem Gericht gestattet, unter Würdigung sämtlicher Umstände des Einzelfalls – namentlich des Bilanzzahlenwerks, der Branchenentwicklung, der aktuellen und zukünftigen wirtschaftlichen Lage – die Höhe der Barabfindung zu schätzen (§ 287 ZPO i.V.m. § 14 SpruchG).
Voraussetzungen und Grenzen der gerichtlichen Schätzung
Erforderlich ist dabei, dass sämtliche verfügbaren Erkenntnisquellen ausgeschöpft werden. Die Schätzung muss auf einer tragfähigen Tatsachengrundlage beruhen. Im Fokus steht dabei insbesondere die Sichtweise des objektiv urteilenden Durchschnittsaktionärs, während rein spekulative Annahmen oder pauschalierende Erfahrungswerte unzulässig sind. Im entschiedenen Fall des OLG Celle waren die betroffenen Unternehmenswerte nicht in voller Präzision ermittelbar. Die Kammer zog jedoch alle maßgeblichen Bewertungsparameter, insbesondere historische Finanzkennzahlen und Branchenanalysen, in eine Plausibilitätsprüfung ein.
Das Gericht betonte, dass eine Schätzung als letztes Mittel in Betracht komme, wenn aufgrund lückenhafter oder widersprüchlicher Informationen kein genauer Unternehmenswert berechnet werden könne. Dabei dürfen weder die Rechte der Minderheitsaktionäre unverhältnismäßig beschnitten noch das Interesse des Hauptaktionärs an einer geordneten Unternehmensfortentwicklung beeinträchtigt werden.
Streitpunkt: Anforderungen an Transparenz und Nachvollziehbarkeit
Besonderes Augenmerk legt die Rechtsprechung darauf, dass die gewählte Schätzungsmethode und deren Ableitung im Spruchverfahren für alle Verfahrensbeteiligten nachvollziehbar und in den Erwägungsgrundlagen offen dargelegt wird. Dies trägt der Tatsache Rechnung, dass die gerichtliche Entscheidungsfindung nicht im rechtsfreien Raum erfolgt, sondern dem Parlamentsvorbehalt und effektiven Rechtsschutz unterliegt.
Kommt das Gericht zu dem Schluss, dass eine Schätzung erforderlich und angemessen ist, so muss es die angewandten Bewertungskriterien sowie die zugrunde gelegten Prämissen transparent offenlegen und plausibel begründen. Die Beteiligten haben die Möglichkeit, Einwände gegen die Methodik und vorgelegten Daten zu erheben. Eine gerichtliche Schätzung steht somit im Kontext eines dialogischen Verfahrens, das im Interesse einer gerechten Abfindungslösung den Ausgleich divergierender Beteiligteninteressen sicherstellt.
Perspektiven für betroffene Aktionäre und Unternehmensorgane
Die Möglichkeit, die Höhe einer Barabfindung im gerichtlichen Spruchverfahren notfalls auch zu schätzen, zeigt auf, dass selbst in Fällen unzureichender Datengrundlage eine Kompensation der Minderheitsaktionäre erfolgen kann. Dies dient sowohl dem Schutz des Minderheitenschutzes als auch der Handlungsfähigkeit der Gesellschaft. Unternehmen und Aktionäre sollten jedoch beachten, dass eine gerichtliche Schätzung immer die ultima ratio darstellt und belegte Unternehmensdaten weiterhin das Fundament einer ordnungsgemäßen Bewertung bilden.
Aktuelle Entwicklungen und weiterführende Erwägungen
Die Entscheidung des OLG Celle hat in der Kommentarliteratur Zustimmung gefunden und setzt klare Maßstäbe dafür, wie Gerichte mit Bewertungslücken umgehen können und müssen. Sie unterstreicht die Bedeutung sorgfältiger Dokumentation und offener Kommunikation im Vorfeld und während gesellschaftsrechtlicher Strukturmaßnahmen. Potenzielle Unsicherheiten bezüglich der Unternehmensbewertung können sowohl für Mehrheits- als auch Minderheitsaktionäre erhebliche wirtschaftliche Konsequenzen nach sich ziehen.
Gerichte sind angehalten, die berechtigten Ansprüche aller Beteiligten sorgfältig abzuwägen und dies auch im Spruchverfahren transparent darzulegen. Offen ist, inwiefern künftige höchstrichterliche Entscheidungen eine weitere Präzisierung der Anforderungen an die gerichtliche Schätzung liefern werden.
Für Unternehmen, Investoren und Aktionäre können die komplexen Fragen der Barabfindung und Unternehmensbewertung weitreichende Bedeutung entfalten. Bei tiefergehenden rechtlichen Fragestellungen und im Kontext konkreter gesellschaftsrechtlicher Auseinandersetzungen stehen die Rechtsanwälte bei MTR Legal als verlässliche Ansprechpartner bereit.